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Ich heisse Elina

Beiträge unter Pseudonym «Elida» in den Jahren 2000/2001 im Rahmen des Projektes Tage-Bau des Berliner Zimmers (www.tage-bau.de)

Ich heisse Elina  1. Teil

«Mein Papa heißt Stefan und arbeitet in einer Firma, die Computer baut.» Die Lehrerin nickte interessiert. «Wie heißt sein Beruf oder die Tätigkeit, die er dort verrichtet?» Elina zögerte. «Ich weiß es nicht», gab sie schließlich zu. Sie hatten als Hausaufgabe für heute aufgehabt, ihre Eltern nach deren Beruf zu fragen. Bei ihrer Mutter war das einfach gewesen. Sie arbeitete stundenweise in der Küche eines Restaurants. Ihren Vater hatte sie nicht fragen können. Er war wie die Tage zuvor sehr spät nach Hause gekommen. Obwohl sie sich vorgenommen hatte, wach zu bleiben, um ihn nach seiner Arbeit zu fragen, war sie dann doch eingeschlafen. Sie hatte keine Visionen und war nicht in Fatima geboren und so wiederholte sie auf die Frage der Lehrerin nur, was schon ihre Mutter gesagt hatte: «Er arbeitet mit Computern, ich weiß nicht wie man so etwas nennt.» Die Lehrerin, Frau Baumgärtner zog ihre Stirn in Falten. Das passierte immer, wenn sie die Augenbrauen hob, weil sie unzufrieden war mit dem, was sie zu hören bekam. Sie war sehr kritisch. Man konnte es ihr nicht oft recht machen. «Ist er studierter Informatiker oder vielleicht IT-Fachmann?» Elina rutschte unruhig auf ihrem Sitz hin und her. Sagte sie ja, so war das gelogen. Sagte sie nein, so hatte sie keine Ruhe vor ihrer Klassenlehrerin, bis diese alles bis ins kleinste Detail über ihren Paps wusste. «Ich weiß es nicht, es tut mir leid. Ich sehe meinen Vater sehr selten, weil er so viel arbeitet. Ich werde ihn am Wochenende fragen. Ganz bestimmt.»

Ich heisse Elina  2.Teil

Frau Baumgärtner schaute skeptisch. Was sollte sie nur mit diesem Kind anfangen? Immer vertrödelte Elina ihre Hausaufgaben. Wenn sie kein Zeichen setzte – bis hierher und nicht weiter – war es mit ihrer Autorität nicht weit her. Fast dreißig Jahre war sie nun schon Grundschullehrerin. Sie hatte es bis zur Schulleiterin gebracht. Aus der fürsorglichen, sanftmütigen jungen Frau aus den Anfangsjahren ihrer Beamtenlaufbahn war eine nervlich angeschlagene, strenge und herrschsüchtige Person geworden. Besonders die vierte Klasse hatte darunter zu leiden. Schwer trug Frau Baumgärtner an der Verantwortung, ihre Schäfchen fit für das Leben zu machen. In der vierten Klasse entschied sich, welche Kinder die Chance erhielten, aufs Gymnasium zu gehen. Hier fand die Auslese statt. Die Gymnasien waren voll. Die meisten Eltern wollten ihr Kind aufs Gymnasium schicken und nur aufs Gymnasium. Frau Baumgärtner sah die Grundschule nicht als Zulieferbetrieb für Gymnasien, das hatte sie wiederholt auf den Elternabenden erklärt.

Die Welt dort draußen brauchte nicht nur Professoren. Versonnen erinnerte sie sich der Lesung von Inge und Walter Jens am Sonntag im Stadtfriedhof. Und nächsten Freitag würde Tony Blair den Theologen Hans Küng besuchen kommen.

Trotzdem, wer räumte noch den Müll weg, wenn er ein abgeschlossenes Studium in der Tasche hatte? Wer stand in der Früh um drei auf und backte Brötchen und setzte sich der Gefahr einer Mehlallergie aus, wenn er Abitur hatte. Nein! über dem Wohl des Einzelnen stand in einer Demokratie und dafür hielt sie das politische System in Deutschland das Allgemeinwohl. Humboldt hin oder her, vor ihr saß mit Elina der Prototyp einer Hauptschulkandidatin. Sehr intelligent, dabei aufmüpfig und frech.

Ich heiße Elina  3. Teil

Die Eltern gaben weder Geld für den Förderverein der Schule, noch kamen sie regelmäßig zu den Elternabenden. Sie entschied ein Exempel zu statuieren. «Elina, ich habe deine Ausreden satt. Einmal ist das Wetter zu schön, um daheim zu sitzen und Hausaufgaben zu machen. Das andere Mal regnet es und du hast leider dein Hausaufgabenheft irgendwo verloren. So geht das nicht weiter. Ich möchte von dir einen Aufsatz zum Thema: Mein Papa Und Seine Arbeit. Zehn Seiten. Du hast zwei Wochen Zeit.» Schadenfroh kicherte es hinter ihr. Elina senkte den Kopf und nickte stumm.

Ihre Nebensitzerin war an der Reihe. Stolz erzählte sie, dass ihr Vater als Arzt arbeite und jeden Tag viele Patienten gesund mache. Wohlwollend nickte Frau Baumgärtner. So viel Menschenliebe in der Familie, da konnte die Tochter ja nur gute Noten nach Hause bringen, dachte Elina und seufzte. Das Radio hatte am Morgen gemeldet, dass Krebs in den nächsten dreißig Jahren Herz-Kreislauferkrankungen als Todesursache Nr. 1 verdrängen werde. Wie sollte sie nur diesen Aufsatz fertig bringen? Ob Stefan ihn ihr am Wochenende für die Schule schrieb? Aber nein, er war ja so beschäftigt. Samstags fuhr er meist die hundert Kilometer zu seinem Vater und half dort. Sonntags bereitete er sich auf die nächste Woche in der Firma vor oder schlief schlicht und einfach den ganzen Tag durch, weil er sich wieder überarbeitet hatte. Sie schrieb gerne ab und zu kleine Geschichten. Für jede Seite bekam sie zwei Mark extra zu ihrem Taschengeld von Stefan. Da war das Thema aber frei. Gruselgeschichten waren einfach spannend. Wenn die Hauptfigur auf einem einsam gelegenen Friedhof eine Nacht als Mutprobe verbringen musste und zwar kein Gespenst sah, jedoch einen Grabstein mit dem eigenen Namen entdeckte, war das einfach super geil.

Ich heiße Elina  4. Teil

Geschichten zu erfinden war kein Problem, auch die zwei Mark bekam sie. Seit Elina jedoch festgestellt hatte, dass Stefan sich noch nicht einmal die Zeit nahm, ihre Geschichten anzuhören, machte auch das keinen Spaß mehr. Sie hatte ihn zudem in Verdacht, sie nicht zu lesen. Tief in Gedanken ging sie nach der letzten Schulstunde nach Hause. Den Nachmittag hatten sie frei, was keine Selbstverständlichkeit in der vierten Klasse war. Heute war Freitag. Sie hatte also noch 13 Tage und einen halben, um herauszufinden, was ihr Vater tat. Eigentlich interessierte es sie schon. Bisher hatte sie nur noch nicht intensiv darüber nachgedacht. Sie wusste viel über die Familien ihrer Freundinnen. Bis auf Petra, deren Mutter geschieden war, überall das gleiche. Meist waren beide, Vater und Mutter, berufstätig. Nur wenn die Mutter ein Baby bekam, blieb sie zu Hause, bis es groß genug war. Dann fing sie wieder an zu arbeiten. Solange die Mutter nicht arbeiten konnte, musste der Vater Überstunden machen, um die Familie über die Runden zu bringen. Oder er hatte einen zweiten Job. Oder die Mutter arbeitete von zu Hause aus. Oder die Familie war reich und die Mutter arbeitete nicht. Auch das gab es. Einen anderen Vater, der von morgens sieben bis abends zehn Uhr oder später nicht zu Hause war, kannte sie nicht. War das normal? Ihr Interesse war geweckt. Wo trieb er sich herum? Hatte er vielleicht eine Freundin, wie Mama manchmal im Scherz sagte, wenn er wieder einmal zu spät nach Hause gekommen war? Weil er seinen Schlüssel vergessen hatte, riss er oft die halbe Familie durch sein Läuten aus dem Schlummer. Elina wurde es heiß und kalt bei dem Gedanken. Sie konnte es sich aber nicht wirklich vorstellen. Hätte er eine Freundin, wäre er sicherlich besserer Laune. Morgens sahen sie sich, wenn sie früh Schule hatte und er spät dran war, wie er es nannte. Und abends sah sie ihn manchmal im Traum. Sie träumte davon, dass er wenigstens einmal am Wochenende Zeit hatte und mit ihr etwas unternahm.

«Die Zeiten, als man noch 16 Stunden täglich arbeiten musste, sind vorbei seit es Gewerkschaften gibt», hatte ihre Lehrerin vor kurzem erzählt. Es ging damals um die Geschichte eines kleinen Jungen, der in England Kamine reinigen musste. Doch nicht in diesem Jahrhundert? Heute gab es Schornsteinfeger. Die Familie des Jungen war sehr arm und er musste deshalb als Kind schon arbeiten. Man nahm Kinder für diese Arbeit, weil sie so klein waren und die Erwachsenen nicht in die engen Schornsteine passten. Es war schrecklich für die Kinder. Manchmal, so erzählte die Lehrerin, blieben sie im Schornstein stecken und man machte unter ihnen ein Feuer, damit sie sich anstrengen sollten herauszukommen. Nicht allen gelang das. Viele erstickten qualvoll. Gut, dass ich nicht früher geboren wurde, als es das noch gab, dachte Elina und sie war plötzlich dankbar gegenüber ihrem Vater.

Ich heiße Elina  5. Teil

Sie war in Deutschland geboren. Ihr Bruder und ihre Mutter waren im Kosovo zur Welt gekommen. Das lag bei Jugoslawien, glaubte sie. Sie hatten in Deutschland Asyl beantragt. Der Asylantrag wurde abgelehnt, obwohl in der Heimat Krieg herrschte. Sie bekamen nur eine sogenannte Duldung. Alle drei Monate musste Mutter, als sie noch in Düsseldorf wohnten, zum Ausländeramt und sie wussten nicht, ob ihre Duldung wieder für drei Monate verlängert werden würde.

Ihr erster Papa starb an Lungenkrebs, da war sie gerade vier geworden. Ihre Eltern bekamen keine Arbeitsgenehmigung. Die Herumsitzerei vor dem Fernseher und die Ungewissheit über die Zukunft seiner Familie gaben ihm den Rest. Er starb damals einen Tag vor Weihnachten. Ein Jahr später hatte Mama dann Stefan kennen gelernt .Einen Studenten, der tags studierte und nachts am Bahnhof Züge reinigte. Ja, er arbeitete als Putzmann. Sie hatte es keiner von ihren Freundinnen erzählt, weil sie Angst hatte, die würden sie auslachen. Mama heiratete dann Stefan und durfte endlich arbeiten. Elina dachte, sie würden irgendwann in ein großes Haus umziehen oder auch nur eine große Wohnung. Sie kannte keine Familie, die in zwei Zimmern zu viert lebte, obwohl sie einmal gelesen hatte, das solle es in armen Ländern geben.

Sie aß zu Mittag, während der Fernseher lief. Ein Professor Kernig aus Freiburg, fragte in einer aufgezeichneten Vorlesung, was die größte Katastrophe im 20. Jahrhundert war. Und beantwortete die Frage gleich selbst. Sinngemäß sagte er, dass in insgesamt zwei, drei Jahren vor und nach 1960 in Maos China mehrere hundert Millionen Menschen der Bevölkerungsstatistik entfielen. Entweder waren sie verhungert oder aufgrund politischer Drangsalierung ihrer potentiellen Eltern nicht geboren.

Stefan und Mama schliefen im Wohnzimmer. Es war eine Couch, die man ausziehen konnte. Legte man dann Bettzeug darauf, hatte man ein Bett für zwei. Elina schlief mit ihrem Bruder im anderen Zimmer. Es war ein Hochbett. Sie schlief oben. Es war im Sommer oben immer zu warm, auch wenn man das Fenster offen hatte.

Ich heiße Elina  6. Teil

Salla, ihr Bruder sah oft bis tief in die Nacht fern oder lernte. Sie konnte abends lange nicht einschlafen. Manchmal raschelte und rumorte es auf dem Balkon, wo sie die gelben Tüten mit Recyclingmüll aufbewahrten. Am nächsten Morgen pflegte Salla sie beim Frühstück damit aufzuziehen. «Unser Untermieter, die Ratte war ja wieder ganz schön aktiv», sagte er. «Ratten sind intelligent und unverwüstlich. Nach einer atomaren Katastrophe werden sie wahrscheinlich überleben und uns beerben. Sie werden in unseren Betten schlafen und von unserer Nutella essen.»

Elina verzog das Gesicht. Sie saß in ihrem Schlafzimmer, das zugleich ihr Ess- und Lern- und Fernsehzimmer war. Elina schlug die Beine übereinander. Alle logen, sie war doch zu dick um die Oberschenkel herum. Sie beschloss Vegetarierin zu werden. Sie konnte nicht mit Sicherheit sagen, dass deshalb auch nur ein Huhn, ein Schwein, ein Kalb weniger geschlachtet wurde. Welches Mädchen getraute sich zu sagen, ich esse Gemüse und Salat und Obst, weil ich Angst habe dick zu werden? Nein, als Vegetarierin gegen das Töten von Tieren zu sein, klang sehr viel edler. Das erste war Egodenken, das zweite scheinbar Uneigennützigkeit.

Elina aß gerne. Konnte sie die guten Vorsätze nicht einhalten, so war eben Rosalina, ihre Mama schuld. Rosalina liebte Fleischgerichte über alles und scherte sich nicht um ihre Linie. Extra für ihre Tochter Grünfutter zu bereiten, damit diese aschfahl daherkam und irgendwann zusammenbrach? Das würde sie sicher nicht zulassen. Elina hakte den Entschluss Vegetarierin zu werden ab. Es gab genug Probleme, sie musste sich nicht noch extra welche machen.

Ich heiße Elina  7. Teil

Sie träumte davon, dass sie in eine größere Wohnung umziehen würden. Sie wollte unbedingt ein Zimmer für sich alleine. Keine ihrer Freundinnen musste mit ihrem Bruder zusammen in einem Zimmer schlafen, sobald sie größer waren.

Mama durfte endlich arbeiten, weil sie Stefan geheiratet hatte. Sie sprach noch wenig deutsch. Es war schwer für sie, Arbeit zu finden. Elina hatte ihre Freundinnen aus Düsseldorf sehr lange vermisst. Stefan fuhr immer zwischen Düsseldorf und Tübingen hin und her. Es war sehr viel Stress für ihn. Er brauchte immer ungefähr fünf Stunden, bis er bei ihnen war und dann noch einmal fünf Stunden für den Rückweg. Mama hatte Angst, dass er einen Autounfall haben würde und so beschlossen sie zusammenzuziehen. Sie durften nur nach Tübingen umziehen, wenn Mama Stefan heiratete, weil sie nur eine Erlaubnis für das Land hatten, in dem Düsseldorf liegt. Tübingen liegt in einem anderen Land, das aber auch innerhalb von Deutschland liegt. Sie nennen das ein Bundesland. Durch die Heirat würde alles einfacher, sagten sie. Aber es bedeutete nur eine Menge Arbeit und Nervenvergeudung mehr. Sie brauchten viele, viele Papiere für die Heirat. Wahrscheinlich dachten die im Ausländeramt, dass Stefan Mama doch nicht heiraten würde und so hat das ziemlich lange gedauert. Er hat es sich aber nicht anders überlegt.

In Tübingen war es anfangs nicht leicht für Elina. Sie hatte niemand zum spielen. Salla war ja schon ein ganzes Stück älter und interessierte sich eher für Fußball und solche Sachen. Mit Puppen zu spielen oder nur damit gesehen zu werden war ihm peinlich. Es war ihm sogar peinlich mit Elina gesehen zu werden, wenn seine Freunde dabei waren. Immer wenn er ging, weil er etwas mit einem Freund ausgemacht hatte, wollte sie auch mit. Inzwischen hatte sie es fast aufgegeben, ihn danach zu fragen. Er sagte immer «nein Hexe», sie kannte seine Antworten schon auswendig. Mama meinte bei solchen Gelegenheiten, er ist in Pubertät und lächelte dabei. Da solle man ihn mal lieber etwas in Ruhe lassen.

Ich heiße Elina  8. Teil

Elina wusste nicht was das war. Stefania, ihre beste Freundin meinte, es wäre die Zeit, wenn aus den Jungs Männer werden. Elina konnte nicht entdecken, dass er sich wie ein Mann benahm, eher wie ein Fünfjähriger. So sprang man doch nicht mit seiner Schwester um, oder?

Katharina aus Russland ging auch in ihre Klasse. Elina nannte sie so, weil sie noch eine Freundin hatte, die Katharina hieß. Katharina die Kleine. Sie traf sie jeden Tag. Sie war das jüngste Kind in ihrer Familie und hatte nur ältere Brüder. Jeden Tag wurde sie mindestens einmal von ihnen verhauen. Elina glaubte Jungs waren alle so, glaubten sie wären die Chefs. Dabei hatten sie keine Ahnung und dachten nur an sich. Eine Zeitlang wollte sie auch ein Junge sein. Weil die stärker waren und weil Eltern einem Jungen viel mehr erlaubten, als einem Mädchen. Das war ungerecht. Jetzt wollte sie kein Junge mehr sein, vielleicht später wieder. Wer wusste, wozu das gut war. Na ja, wenn sie wechseln könnte natürlich. Als Kind glaubte man noch an Wunder. Alles war möglich. Papa sagte immer, «träume nicht so viel mein Kind.» Dabei war sie unschuldig daran. Elina wäre gerne eine Prinzessin gewesen, die wusste, dass sie wenn sie groß war einen wunderhübschen Prinzen bekam, der ihr alle Wünsche erfüllt.

Kinder waren unschuldig daran, dass sie von einer besseren Welt träumten. Warum schenkten ihnen die Großen Märchenbücher über gute und böse Hexen und gute und böse Zauberer? Kleine bekamen davon Angst und wollten immer mehr davon lesen. Man glaubte nach einem bösen Buch, von dem man Alpträume hatte, bekam man irgendwann ein Buch mit glücklichem Ausgang. Die Erwachsenen nannten das ein Happy End. Warum sie es wohl auf Englisch sagten?

Ich heiße Elina  9. Teil

Vielleicht hatte die deutsche Sprache dafür kein Wort oder es gab einfach weniger schöne Schlüsse für eine Geschichte. Ja, ja so waren sie, die Großen. Hatten keine Ahnung, worüber Kinder sich  Gedanken machten. Gedanken hatten sie täglich genug, nur war es schwierig, darüber in einer Sprache zu reden. Würden Kinder darüber reden, was ihnen jeden Tag durch die Köpfe ging und wie dumm die Erwachsenen waren, hätten sie wenig zu lachen.

Eltern wollten nicht, dass man viel redete. Sie dachten und sagten, dass man schlecht erzogen wäre und keine Regeln kenne und trotzig wäre. Sie hätten Kinder am liebsten stumm.  Sie schenkten ihren Kindern Puppen, Barbies und so, die keinen Pieps von sich gaben. Sie dachten sicher, dass ihre Kinder dann auch so still werden und vielleicht träumten sie davon einmal ein Baby zu bekommen, das wunderhübsch aussah, keine teuren Pampers brauchte, weil es wie eine Puppe nicht musste. Ein Baby, das nicht schrie, weil es keinen Hunger hatte. Elina glaubte daran, dass sie deshalb Mädchen Puppen schenkten. Sie wusste es aber nicht genau. Es gab ja schon sprechende Puppen. Die sagten aber nur artige Sachen, wie Hallo und Guten Tag. Grüß Gott hatte sie noch keine Puppe sagen hören. Das war früher mehr in.

Elina war Moslem. Das war aber nicht schlimm. Es gab für Moslems und Christen den gleichen Gott, sagte Papa. Sie gaben ihm nur verschiedene Namen, weil sie verschiedene Sprachen sprachen. Elina war nicht strenggläubig. Die, die echte Moslems waren, beteten fünfmal am Tag und fasteten zu bestimmten Zeiten.

In der Schule besuchte sie den evangelischen Religionsunterricht. Es gab keinen Unterricht für Moslems. Da es aber über den gleichen Gott war, machte es doch keinen Unterschied, ob sie etwas auf moslemisch oder evangelisch über ihn lernte.

Verschiedene Religionen, sagte Papa, waren wie verschiedene Sprachen. Wenn man sie übersetzte, kam immer das gleiche heraus: Der Mensch brauchte jemand, an den er glauben durfte, dem er gehorchen durfte, der ihm sagte, wo es lang ging. Also brauchten die Kinder die Eltern und die Eltern brauchten Gott. Die Kinder hatten es dann aber doppelt gut. Sie hatten Eltern und wenn die einmal böse waren, konnte das Kind eben zu Gott beten, damit er sie dafür bestraft – nur ein bisschen, bis sie wieder vernünftig geworden waren.

Ich heiße Elina  10. Teil

«Ja, ja so ist das, eine komplizierte Welt, in der wir leben», sagte Papa immer und er musste dabei wohl an Computer denken. Computer sind doch kompliziert oder? Deshalb war er immer so lange auf Arbeit. Wenn etwas kompliziert ist, so braucht man dafür eben etwas länger. Elina beschloss Stefan am Wochenende nach seiner Arbeit zu fragen.

Vor kurzem hatte sie im Fernsehen gesehen, wie man erkennen konnte, ob jemand log oder nicht. Nicht, dass sie glaubte, er würde lügen, nein. Es war aber doch immer besser, man wusste, woran man war auf dieser Welt. Es war immer besser, mehr zu wissen als andere. Das war in Mathe bei Frau Baumgärtner genauso wie daheim. Frau Baumgärtner sagte immer, man solle nicht vorauslernen. Den Lehrern durfte man nicht alles glauben. Elina konnte das Einmaleins bis zur Vierzehnerreihe auswendig. Für die vierte Klasse war das doch schon toll, hatte ihr Papa gesagt. Nur die Zeit, sie abzufragen hatte er nicht.

Etwas, das sich nicht veränderte, konnte man getrost lernen. Es war nicht umsonst. Man lernte es einmal tüchtig und die Tage darauf ein bisschen und schon war es im Kopf an einer Stelle, an der man es nicht mehr vergaß. Das ging nur bei Sachen, die man wirklich und ganz doll lernen wollte. Das Einmaleins war praktisch. Sie bekam fünf Mark Taschengeld die Woche. Käme Papa nur einmal auf die praktische Idee, es ihr für drei Monate im voraus zu bezahlen, damit er Montags nicht immer vergaß, es ihr morgens auf den Tisch zu legen. Ja, käme er auf diese Idee, könnte sie wie aus der Pistole geschossen antworten: drei Monate haben zwölf Wochen. Zwölf mal fünf Mark, das macht siebzig Mark. Sie wusste, er käme von alleine nicht auf die Idee. Was wäre, wenn doch? Es gab doch tatsächlich Wunder, Leute, die im Lotto wirklich viel Geld gewannen. Mehr als die neun Mark alle paar Wochen, die Papa nach Hause brachte, wenn er den Lottoschein einlöste.

Es musste schon ein kleines Wunder sein, im Lotto zu gewinnen. In ganz Deutschland gewannen vielleicht pro Woche ein paar von Millionen und wurden Millionäre. Warum sie dann Millionäre hießen, wusste Elina nicht genau. Vielleicht, weil sie ein paar von Millionen waren, die gewonnen hatten. Seltsam war nur, dass die anderen nächste Woche wieder spielten und so weiter jahrelang. Sie glaubten eben an Wunder oder wollten daran glauben.

Ich heiße Elina  11. Teil

Vielleicht glaubten all diese Menschen aber auch an Gerechtigkeit. Sie spielten, weil sie wussten, einer von ihnen würde durch ihr Geld megaglücklich werden. Einer, der vielleicht arm war. Elina glaubte nicht wirklich daran. Warum gab es arme und reiche Menschen? Ab wie viel Geld war jemand reich? Fünfzehn Mark Taschengeld bekam Salla, ihr Bruder in der Woche. Das kam ihr schon vor wie sehr viel, viel Geld. Sie kaufte sich eine TV Movie und vielleicht noch eine Bravo und schon war ihr eigenes Taschengeld am ersten Tag weg. Was konnte sie sich aber mit fünfzehn Mark kaufen? Warum war sie nicht schon sechszehn Jahre, dann würde sie auch so viel bekommen wie Salla. Seltsam war nur, dass er es schaffte, alles am ersten Tag auszugeben. Was war also reich? Ein Papa im Fernsehen hatte einmal zu seiner Familie gesagt: Wir sind glücklich und deshalb sehr reich. Dabei hatten die noch nicht einmal einen Fernseher. Die Eltern waren arbeitslos und das Auto hatten sie verkaufen müssen, um die Miete zu bezahlen.

Elina seufzte. Deutsch war eine schwere Sprache. Sie sprach ganz ohne Akzent. Das war nicht immer so gewesen. Wie oft hatte sie sich in Düsseldorf von Schulfreunden, «Kauf dir eine Tüte Deutsch», anhören müssen. Im Diktat bekam sie regelmäßig eine zwei. Das lag sicher auch daran, dass sie gerne las. Zweimal in der Woche ging sie in die Bücherei. Es war nicht weit. Sie lag in der gleichen Strasse, in der ihre Schule war, Es war die gleiche Strasse, in der sie wohnten. In Mathe war sie früher auch gut gewesen. Erst seit sie eine neue Lehrerin hatte, machte ihr Mathe keinen Spaß mehr. Sie hatten Frau Baumgärtner in Deutsch und in Mathe. Sie hatte es noch nicht geschafft, ihr Deutsch auch zu vermiesen.

Ich heiße Elina  12. Teil

Noch 13 und ein halber Tag bis Buffalo. Was Buffalo bedeutete, wusste sie nicht. Stefan sagte das öfter, wenn er einen Versicherungstermin hatte. Er kam dann extra früher, meist um acht abends von der Arbeit nach Hause. Noch fünfundzwanzig Minuten bis Buffalo, sagte er dann zum Beispiel und alle wussten, dass er einen wichtigen Termin mit einem Kunden hatte. Er hatte Angst vor den Kunden. Weniger vor den Kunden, die eine Versicherung bei ihm abschlossen. Die, die abweisend waren, vor denen hatte er Angst, glaubte Elina. Es war nicht die Angst, die man vor einem Gespenst hat oder vor dem dunklen Keller. Nein, da erschrak man einmal und rannte dann schnell die Kellertreppe hoch oder machte überhaupt vorher Licht, bevor man hinunterging. Wenn Kellerlampen nur nicht meist so schwach waren.

In jeder Ecke herrschte ein anderer Schatten, eine andere Bedrohung.

Stefan war ungefähr zweimal die Woche abends nervös, bevor er endlich seinen kleinen Computer nahm und ihn zusammen mit einem kleinen Drucker in eine große, schwarze Vertretertasche packte. Fünfmal prüfte er, ob die Brille geputzt war, die Fingernägel sauber, die Schuhe glänzten. Elina würde ihm jeden Tag eine Versicherung abkaufen, wenn er jeden Tag vor der Tür stehen würde und sie größer wäre und das dürfte. Wenn, wenn, sie seufzte.

Warum die Leute Versicherungen brauchten, wusste sie nicht und die Kunden, zu denen Stefan ging wohl auch nicht alle. Es war selten, dass er von diesen Besuchen gutgelaunt zurückkam. Trotzdem ging er immer wieder. Man darf nie aufgeben, sagte er ab und zu. Er hatte schon selbst etwas von einem Computer. Er mochte seinen kleinen Computer sehr. Würde er keine Besuche mehr machen, würde er ihn der Versicherung zurückgeben müssen. Das war schlecht. Dann würde er nicht mehr schreiben. Das war seine große Leidenschaft. «Die gesetzliche Rente ist nicht mehr sicher», sagte er ab und zu, und hörte sich an wie ein Politiker im Fernsehen. «Die meisten begreifen nicht, dass sie sich über eine Lebens- oder Rentenversicherung selbst absichern müssen.» Elina glaubte ihm jedes Wort. «Du bist noch zu jung, noch nicht geschäftsfähig», bekam sie zu hören, wenn sie anbot, ihr Taschengeld in eine Rentenversicherung einzuzahlen. Bei der Rendite, keine Frage!

Geschichten erfinden, machte ihm sehr großen Spaß. Wieso würde er sonst die halbe Nacht schreiben? Elina wusste nicht, wann Stefan schlief.

Ich heiße Elina  13. Teil

Wenn sie nachts aufstand und sie erwachte sehr oft mitten in der Nacht, sah sie ihn meistens vor dem Computer sitzen und überlegen und schreiben. Sie stand oft nachts auf. Vielleicht kam das daher, dass sie darauf achtete, früh schlafen zu gehen. Ihre Lehrerin hatte schon in der zweiten Klasse gesagt, Kinder brauchen mindestens zehn Stunden Schlaf pro Nacht. Ging sie um acht abends ins Bett, so kam sie auf jeden Fall auf mehr als zehn Stunden. Salla war da ganz anders. Er wollte immer nachts lernen, weil es da so ruhig war. Leider war er der Meinung, er könne besser lernen, wenn der Fernseher nebenher lief. War das nicht seltsam? Vielleicht lag es daran, dass er in der Pubertät war, wie Mama sagte. Da tat man wohl Dinge, die nicht logisch waren. Wäre Elina etwas jünger, so hätte sie angenommen, Stefan und Salla wären Wesen der Nacht. Vampire. Sie war aber schon bald zwölf und glaubte nicht mehr daran zu glauben, dass es solche Leute tatsächlich gab. Trotzdem las sie weiter Gespenster- und Gruselgeschichten. Wer wusste es, vielleicht würde sie eine Spezialistin für solche Geschichten werden. Papa sagte, es sei wichtig, dass man sich ein Steckenpferd zulege und in einem Bereich mehr wisse, als andere. Dann könne man anderen interessante Sachen erzählen und habe eine Aufgabe im Leben. So etwas nenne man Beruf oder Hobby.

Noch 13 und einen halben Tag bis Buffalo, bis sie ihre Strafarbeit abgeben musste. Frau Baumgärtner hatte das mit den zehn Seiten bestimmt nicht ernst gemeint. Morgen würde Frau Baumgärtner sagen: «Elina zehn Seiten sind für die vierte Klasse zuviel. Das sind auch für eine Strafarbeit zu viele Seiten. Aber Strafe muss sein. Eine Seite in Schönschrift und die Sache ist erledigt.» Erleichtert beschloss sie erst einmal den nächsten Tag abzuwarten.

Ich heiße Elina  14. Teil

Katharina aus Russland, ihre Freundin, rief an und schon waren die trüben Gedanken wie weggeblasen. Sie beschlossen, sich für später bei Katharina  zu treffen und die Hausaufgaben zusammen zu machen. Besonders Mathe war sehr schwierig. Katharina aus Russland war eine gute Schülerin und im Gegensatz zu Elina eher schüchtern. Vielleicht verstanden sie sich deshalb so gut, weil sie so verschieden waren.

Am nächsten Tag hatten sie Vertretung. Frau Baumgärtner war krank. Geschieht ihr recht, dachte Elina. Das war die Strafe von oben, weil sie so viel schimpfte und zu streng war. Gleich bereute sie es aber wieder. Gab es dieses wachsame Auge von oben, hatte sie selbst auch nichts zu lachen. Gleich fielen ihr die eigenen kleinen Sünden ein. Katharina aus Russland war katholisch. Sie musste zur Beichte und dem Priester immer alles erzählen, was sie angestellt hatte. Gut, dass sie selbst in den evangelischen Religionsunterricht ging. Die waren nicht so streng, glaubte sie. Die neue Lehrerin schien nichts von Elinas Strafarbeit zu wissen. Bestimmt vergaß Frau Baumgärtner vor lauter Kranksein nach ihrem Aufsatz zu fragen. Sie konnte nie und nimmer zehn Seiten über die Arbeit ihres Papas schreiben. Dass er so viel Zeit hatte, ihr dabei zu helfen, glaubte sie kaum. «Meine Kinder sollen lernen ihre Angelegenheiten selbst zu regeln», sagte er zuweilen. Es war kein gutes Gefühl ein Problem zu haben und allein zu sein.

War sie später groß und hatte vielleicht selbst Kinder, würde sie jede freie Minute mit ihnen verbringen, mit ihnen spielen und ihre Fragen beantworten. Nun ja, vielleicht doch nicht immer.

Kleine Kinder konnten schon blöde sein. Sie wollten beim Einkaufen immer etwas extra. Nicht weil sie Hunger hatten, nein, das war doch klar. Sie übten als Kleine schon einmal sich gegen die Eltern durchzusetzen, ihren Willen zu bekommen. Später, wenn es dann um wirklich wichtige Dinge ging wie Diskobesuch, Führerschein und Auto, waren sie in Übung und wickelten die Eltern um den Finger.

Ich heiße Elina  15. Teil

Der nächste Tag kam und mit ihm der Schreck. Frau Baumgärtner war wieder da. Nur eine leichte Indisponiertheit, was immer das bedeutete, hatte sie einen Tag davon abgehalten, ihre Schäfchen, wie sie sie nannte, weiter in das schulische Nirwana zu führen.

Elina meldete sich nach der ersten Viertelstunde. «Frau Baumgärtner, mir ist so schlecht.» Wie gewohnt schnellten die Augenbrauen der Lehrerin nach oben. «Deine Gesichtsfarbe entspricht der Din-Norm. Oder ist das Rot auf deinen Wangen etwa Schminke?» Sie schaute sich beifallheischend um. Die Enttäuschung, dass die Lehrerin schon so schnell gesundet war, hatte auch Elinas Mitschüler noch im Griff. Niemand lachte. Unzufrieden war Frau Baumgärtner mit schnellen Schritten bei Elina. Plötzlich gab sie ihr nach kurzem Ausholen eine schallende Ohrfeige. «Das ist die Belohnung für deine Lüge.» Elina begann zu weinen. Dann raffte sie so schnell sie konnte ihre Sachen zusammen und lief in Richtung Klassenzimmertür. «Ja, ja, lauf nur schnell nach Hause. Vielleicht kommt jetzt wenigstens einmal dein Vater her. Er war noch bei keinem Elternabend.» Lauter fügte sie hinzu. «Und vergiss die Strafarbeit nicht. Sonst gibt es eine Sechs.» Elina verließ weinend das Schulgebäude. Das gab es doch nicht. Wie hatte Frau Baumgärtner sehen können, dass sie log. Gleich zu schlagen. Nicht einmal Mama schlug sie, wenn sie etwas angestellt hatte. Die Lehrerin durfte sie gar nicht schlagen. Das war verboten. Vielleicht ging Stefan zur Polizei und Frau Baumgärtner musste die Schule verlassen. Solchermaßen etwas getröstet ging sie langsamer. Was sagte sie nur daheim, wenn ihr Bruder noch zuhause war? Er führte sich manchmal auf, als könnte er über sie bestimmen. Besser sie trödelte noch etwas herum.

Ich heiße Elina  16. Teil

Salla brauchte in letzter Zeit etwas lange, bis er mit der Morgentoilette fertig war. Hier wurde noch etwas an den Haaren gezupft und da noch etwas Parfüm oder Rasierwasser aufgetragen. Dabei war bei ihm überhaupt nichts zu rasieren. Er hatte Angst, den dünnen Flaum auf seiner Oberlippe zu entfernen. Dabei wusste doch jeder, dass Barthaare je schneller wuchsen, je öfter man sich rasierte.

Waren Jungs nicht blöd? Sie entfernte sich langsam schlendernd in genau entgegengesetzter Richtung von zuhause. Sie würde Salla so nicht begegnen. Auch wenn er noch zum Bäcker gehen und sich etwas kaufen wollte. Damit war aber kaum zu rechnen. Er war auf Diät, wie er sich ausdrückte. Nicht einmal seine Leibspeise, die Döner Kebap, die Stefan abends manchmal vom Imbissstand mitbrachte rührte er an. Stefan war dann nicht böse. Er lachte und sagte: «Deine Freundin erlaubt dir wohl das Wohlstandsbäuchle nicht mehr?» Er sagte es im Spaß. Ein paar Minuten später kam er dann und wollte leise von Elina wissen, ob Salla denn schon eine Freundin hätte. «Eine? Viele!», pflegte sie zu antworten. Und wirklich hatte sie ihn einmal in der Mittagspause auf einer Bank bei den Sportanlagen gesehen. Inmitten von mindestens fünf Mädchen. Seitdem zog sie ihn damit auf. Ab und zu rief jemand an und wollte ihren Bruder sprechen. Das waren meistens seine Fußballkumpel. Manchmal war aber auch schon eine Mädchenstimme dabei. Sie konnte es sich dann nicht verkneifen, laut «Salla» zu rufen und deutlich hörbar zu sagen. «Es ist eine deiner Freundinnen.» Dann rief eine Weile kein Mädchen mehr an. Warum, wusste sie nicht, aber es wirkte.

Ich heiße Elina  17. Teil

Ganz unter Kontrolle hatte sie die Sache jedoch nicht. Schließlich war sie nicht auf der gleichen Schule wie ihr Bruder. Es war nicht fair. Irgendwie musste sie es doch zurückgeben, dass er stärker war als sie und meistens immer recht bekam. Wollte sie Eine Schrecklich Nette Familie sehen, war er für Stirb Langsam oder Big Brother. Big Brother war lange Zeit in. Alle in der Schule sprachen davon, obwohl dort eigentlich nicht viel passierte. Es war eben mal etwas Neues ein paar Menschen wie in einem Zoo einzusperren und von Kameras beobachten zu lassen. Die Bewohner redeten so undeutlich und leise. Ab und zu lief einer oder eine nackig in die Dusche oder kam heraus. Die, die das interessant fanden, hatten wahrscheinlich keine Familie. Lebt man in einer Familie ist das doch normal. Nicht jeden Tag natürlich. Vielleicht machen die das bei Big Brother aber auch absichtlich. Bringen die Bewohner nicht etwas Äktschen rein, haben die Angst, dass sie nicht bis zum Ende bleiben dürfen, und das viele, viele Geld gewinnen. Nur einer kann gewinnen.

Elina wollte gerne Schauspielerin werden. Ein paar von denen, die bei Big Brother mitgemacht hatten, waren bald so bekannt, dass sie vielleicht eine Talkshow machen könnten oder so. Das würde Elina auch gut gefallen. Es gab doch auch Kinder, die schon Schauspieler waren. Ihre eigenen Eltern schickten sie aber auf keine Schauspielschule. Würde sie fragen, würden sie sich nur daran erinnern, dass sie kein Geld hatten und wären traurig, weil sie ihren Kindern nicht Wünsche erfüllen könnten, die reiche Kinder jeden Tag erfüllt bekommen.

Stefan sagte immer, er wolle sie so erziehen, dass sie früh selbstständig seien. Das würde ihnen später eine große Hilfe im Leben sein. Das einzige, was Elina das Alleinsein brachte, waren selbständige Gedanken oder Gedanken, die sich selbständig machten. Sie hatte dann eine Hoffnung im Kopf, wie die Schauspielsache. Sie erfüllte sich aber nicht von selbst. Nur vom Hoffen tat sich allein nichts. Das wusste doch jeder. Sie war aber ein Kind. Was konnte man bei so großen Wünschen wie der Schauspielsache tun, damit sie in Erfüllung gingen? Wenn noch nicht einmal Mama und Papa sie ihr erfüllen konnten. Es war schon etwas traurig. Mal sehen, dachte sie. Inzwischen war es schon fast 9 Uhr in der Früh. Sicher war Salla längst auf dem Weg in die Schule. Heute hatte er etwas später. Mit Mama war nicht vor drei Uhr nachmittags zu rechnen. Eher etwas später. Der Tag stand also zur freien Verfügung. Sicher würde Frau Baumgärtner spätestens um vier bei Mama anrufen und sich über ihre ungezogene Tochter beschweren.

Ich heiße Elina  18. Teil

Daheim schloss sie leise auf. Man konnte ja nie wissen. Vielleicht hatte ihr Bruder ja verschlafen. Das war die andere Seite der Erziehung zur Selbständigkeit. Jeder kleine Fehler rächte sich sofort und man musste die Konsequenzen tragen. Hatte Salla verschlafen, so hatte er in der Schule bestimmt nichts zu lachen. Sein Lehrer würde eine schriftliche Entschuldigung fordern, unterschrieben von Stefan oder Rosalia. Stefan würde sich natürlich weigern. Er würde damit im Nachhinein Fehler seines Sohnes nur absegnen und ihn ermuntern wieder und immer wieder abends spät zu Bett zu gehen. Nein, sie hatte Glück. Salla war schon weg. Elina warf Schultasche und Jacke in eine Ecke und schaltete den Fernseher ein. Die Strafarbeit ging ihr nicht aus dem Kopf. Noch zwölfeinhalb Tage bis Buffalo. Weniger blieben ihr, zog sie in Betracht, dass sie nicht das ganze Wochenende über dieser Strafarbeit sitzen wollte. Zog sie täglich je einen halben Tag Schule ab, blieb kaum noch genügend Zeit. Was tun? Sollte sie die Mutter von Katharina der Kleinen um Hilfe bitten? Nein, sie verwarf den Gedanken schnell wieder. Die konnte ihr Korrektur lesen oder bei einigen Formulierungen helfen, sie benutzte im Aufsatz etwas oft die kleinen Hilfswörtchen dann, vielleicht und und. Das würde nie etwas werden. Sie musste die Strafarbeit abliefern, um Frau Baumgärtner zu besänftigen, sonst würde die ihr keine Ruhe in diesem Schuljahr lassen. Es gab nichts schlimmeres, als bei einer Lehrerin auf der schwarzen Liste zu stehen. Andauernd hatte sie jetzt ein Auge auf Elina. Vielleicht war sie auch nur zu sensibel für diese Welt.

«Entschuldigt, dass ich lebe», murmelte sie vor sich hin. Sie nahm ein Blatt Papier und kritzelte es mit, «Ich möchte sterben», voll. Wütend und deprimiert blickte sie sich um. Ihr Blick fiel auf den Bücherschrank. Lange sah sie in Gedanken versunken hinüber, was sonst gar nicht ihre Art war. All die vielen Bücher. Wie schaffte es nur jemand so viele Seiten zu schreiben, dass man daraus ein Buch machen konnte?

Ich heiße Elina  19. Teil

Im Vergleich dazu waren ihre zehn Seiten ein Klacks. Sie stand auf und ging hinüber. Alles mögliche hatte Stefan da stehen. Die meisten der Bücher hatte er schon, bevor er Mama geheiratet hatte. Eigentlich hatte er auf einen Schlag eine ganze Familie bekommen. Andere Väter müssen erst Windeln wechseln und Nächte voller Babygeschrei hinter sich bringen, bevor sie so große Kinder hatten wie es Elina und Salla waren. So gesehen hatte er ein gutes Geschäft gemacht, dachte sich Elina. Oder eine kluge Entscheidung getroffen. Ob er selbst das auch so sah?

Alle Bücher standen kunterbunt. Neben Der Alte Mann Und Das Meer von Hemingway gab es Der Campus oder Der Mann Der Nicht Alt Werden Wollte von Walter Jens.

Dann gab es Bücher in anderen Sprachen. Die englischen Titel waren von einem Shakespear. Sie hatten Englisch schon seit der vierten Klasse. Als Stefan klein war, fing man erst in der fünften Klasse mit Englisch an, hatte er überrascht am Anfang des Schuljahres gesagt. Ach ja und ganz außen, schon etwas zerlesen, mit Eselsohren stand ein Buch, das Stefan vor vielen Jahren geschrieben hatte. Sie blätterte etwas darin. Er studierte damals noch Deutsch und Englisch. Es war nicht besonders spannend, fand sie. Schließlich hatte er es über eine andere Frau als Rosalina, über eine mexikanische Studentin geschrieben, die nichts von ihm wissen wollte. Immerhin war er extra nach Mexiko City deswegen geflogen. Alles was mit Stefan und anderen Frauen, als ihrer Mutter zu tun hatte, fand Elina überhaupt nicht spannend. Immerhin über zweihundert Seiten hatte er geschrieben. Sie würde ihn fragen müssen, warum er kein Buch über Rosalina schrieb. Schließlich hatte er sie doch geheiratet, während die andere Sache nicht sehr lange gedauert hatte.

Elina setzte sich mit dem Buch in den schwarzen Sessel, in dem Stefan immer die schriftlichen Sachen erledigte, wie er es nannte. Seltsam, dass Stefan nicht die Mexikanerin geheiratet hatte. Würde ein Junge ein Buch über Elina schreiben, würde sie ihn nicht von der Bettkante schubsen. Sie musste lachen. Stefania sagte das immer, wenn sie auf der Strasse einem Jungen begegneten, der ihr gefiel. Sie sagte dann: «Oh, den würde ich auch nicht von der Bettkante schubsen.» Kichernd liefen sie dann beide davon. Einmal hatte sie es so laut gesagt, dass der Betreffende es mitbekam. Als sie sahen, wie er sich umdrehte und den Kopf schüttelte, ergriffen sie die Flucht. O.k., das war blöde, aber es machte großen Spaß so zu tun, als wäre man schon ein paar Jährchen älter.

Ich heiße Elina  20. Teil

Sie ging zurück an den Schreibtisch und ließ sich in den schwarzen Sessel plumpsen. Ihr Blick fiel auf den kleinen Computer, er wurde Notebook genannt, glaubte sie. Es war ihr nicht erlaubt, es zu benützen, wenn Stefan nicht da war. Nicht einmal ihr Bruder traute sich, ihn mehr als nur einzuschalten. Glaubten Erwachsene ernsthaft, Verbote wären auf Dauer gut für die Entwicklung ihres Kindes? Mit einem schnellen Druck auf den rechteckigen Knopf an der linken Seite schaltete sie den Computer ein. Er gab ein lautes Windgeräusch von sich. Das kam von dem Lüfter auf der Rückseite, der den Chip oder Prozessor kühlte. Endlich passierte auf dem Bildschirm nichts mehr. Sie hatte schon öfter Stefan dabei zugesehen, wenn er irgendwelche Sachen für die Arbeit erledigte. Ab und zu übte sie auch Deutsch und Mathe. Ihre Eltern hatten ihr eine CD für Mathe und eine CD für Deutsch geschenkt. Das war interessant. Es war nicht nur trockener Lernstoff darauf. Aufgaben wechselten mit Spielen. Sie verließ die verschiedenen Versicherungen, die anfangs immer zuerst erschienen. Dann fuhr sie mit der Maus auf Programme. Ein neues Feld erschien. Es wurde Fenster genannt, hatte ihr Salla einmal erklärt. Er durfte in der Schule computern. Das Fach hieß dort aber anders. Informatik oder so. Im Fenster Programme war alles aufgelistet, was man brauchte, wenn man mit dem Computer arbeiten wollte. Sie begann oben. Pharao stand da. Ups, Salla war doch am Computer gewesen. Sie hatte die CDs mit dem Spiel bei seinen Sachen gesehen. Und er hatte gemeint, er spiele damit beim Computer von seinem Freund. So ein Schlawiner. Sicher hatte er vergessen, das Spiel wieder zu löschen, als er fertig war.

Ich heiße Elina  21. Teil

Es musste heute früh gewesen sein, gestern Abend hatte Stefan am Computer gearbeitet, er hätte sicher gleich etwas gemerkt. Nicht einmal im Internet surfte er inzwischen, obwohl sie Internetanschluss hatten. Es gab wohl wenig, von dem er so viel Respekt hatte wie vor Computerviren, die seine Romane löschen konnten, als wären sie nie da gewesen. Fast ein Jahrzehnt schrieb er, soviel wusste sie. Das erste Buch lag sieben Jahre zurück. Nach Pharao waren mehrere Textverarbeitungsprogramme aufgeführt. Stefan kaufte sich keins. Es war wie bei Kinofilmen. Irgendwann kamen sie im Fernsehen. Irgendwann entdeckte er eine Vollversion eines etwas älteren Textverarbeitungsprogrammes auf einer Heft-CD. Zum Preis von ein paar Mark. Und wie er sich dann freute, dass er damals das Programm nicht gekauft hatte, als es noch mehrere hundert Mark kostete. Mit Word Pro hatte sie auch schon geschrieben. Wenn eine ihrer Geschichten auch Stefan gefiel – nur im Urlaub hatte er Zeit, sie zu lesen – durfte sie sie am Computer eingeben und auf Diskette abspeichern. Sie klickte mit der Maus auf Word Pro. Das Programm wurde hochgefahren. Mal sehen, was Stefan gestern noch geschrieben hatte, dachte sie. über Datei öffnen ging das, soviel sie wusste. Einer der vielen Ordner hieß Literatur. Sie klickte darauf. Jawohl! Sie schloss fest die Augen, ballte die Hände zu Fäusten und streckte sie in die Höhe. Der Müll! Das musste der Roman über seinen letzten Job sein. TT-Story hieß die Geschichte über seine jetzige Arbeit. Dann kamen noch Drehbücher, eins spielte in New York, das andere war eine Obdachlosenstory, die in Frankreich und Deutschland spielte. Hey, sie hatte gewonnen. Hier war alles was sie über ihren Paps wissen wollte.

Ich heiße Elina  22. Teil

Sicher schrieb er über sein Leben, wie in dem ersten Buch über die Mexikanerin auch. Die Strafarbeit war schon so gut wie geschrieben. Hoffentlich hatte er seine Dateien nicht noch extra mit Passwort gesichert. Jemand war an der Wohnungstür. Es blieb keine Zeit, den Computer normal herunterzufahren. Sie zog in ihrer Panik einfach den Netzstecker aus der Steckdosenleiste an der Wand. Es war gerade mal kurz vor zehn, wer konnte das sein. Einbrecher schoss ihr durch den Kopf. Sogar am Tage wurde eingebrochen, wenn man dem Glauben schenken wollte, was in den Zeitungen stand. Nein, Mama stand im Türrahmen. Sie war genauso überrascht wie sie. «Hallo Kind», sagte sie mit ihrem Akzent und strahlte übers ganze Gesicht. Es war ein gutmütiges Gesicht, das fast nie böse werden konnte. Sie liebte ihre Mutter über alles. «Was tust du schon hier», sagten beide fast gleichzeitig und mussten lachen. «Ich hab verschlafen», log Elina. Sie wollte Mama nicht mit Problemen belasten, die diese nicht lösen konnte. Sie machte sich dann nur Sorgen. «Und warum bist du früh da?», fragte Elina schnell nach, bevor noch etwas kommen konnte. «Mir ist heute nicht so gut. Ich muss gestern Abend etwas falsches gegessen haben. Da hab ich mir für den Rest des Tages frei genommen. Auch sonst hab ich ja genug zu tun.» Sie schaute sich um. «Ach was, wozu aufräumen, heute kommt doch sowieso kein Besuch. Gönn dir auch mal Pause. Ich kann dir ja helfen, dann geht es schneller», rang sie sich nach kurzer Überlegung ab. «Nein, nein.» Rosalia lachte. Das Angebot ihrer Tochter freute sie offensichtlich. «Ich mach das schon. Mach du mal lieber etwas für die Schule», drohte sie lächelnd mit dem Zeigefinger. «Wir sollen einen Aufsatz schreiben.» «Warum es gut ist, nicht zu oft in der Schule zu fehlen?» «Nein, es geht um die Arbeit von Stefan.» «Hattet ihr das nicht schon vor einigen Tagen auf?» «Ja», Elina überlegte. «Frau Baumgärtner war nicht zufrieden.» «Meine Nebensitzerin sagt einen Satz als Antwort. Ich sage auch einen Satz. Mit meiner Antwort ist sie aber nie zufrieden. Das ist nicht das erste Mal», sagte sie, als sie den skeptischen Blick der Mutter sah. «Komm setz dich zu mir her. Ich habe eine Geschichte für dich Elidusch.» Elidusch nannte sie sie manchmal, wenn sie sentimental wurde.

Ich heiße Elina  23. Teil

«In Amerika lebte ein junger Mann von ungefähr 19 Jahren.» «Amerika?» «Ja, das ist das Land, in dem alle Menschen gleich sind vor dem Gesetz und alle die gleichen Chancen haben.» «Was ist mit dem Mann?» «Er suchte vor ungefähr hundert Jahren einen Job. Und er fand bald einen Job, denn jemand der arbeiten möchte, findet immer einen Job, sagen sie. Ja, Arbeit gibt es genug. Er fing in der Küche an. Es gab noch keine Spülmaschinen, die das Geschirr blitzblank machen. So weit, so gut. Er verdiente nicht viel, aber es reichte für das Nötigste. Es war eine große Küche. Das Restaurant, zu dem die Küche gehörte war groß. Das kam daher, dass der Appetit der Leute, die dorthin zum Essen kamen groß war. Die Küche war nicht immer so groß gewesen. Jetzt waren dort allein mit dem Geschirr zwei Leute den ganzen Tag beschäftigt. Im Laufe der Zeit bekam unser junger Mann mit, dass er für die gleiche Arbeit sehr viel weniger Lohn bekam, als sein Kollege. Er war wütend, dachte er doch, er mache die Arbeit besser als der andere. Was denkst du, hat er getan?»  «Gekündigt natürlich.» «Nein, so schnell wirft man die Flinte nicht ins Korn. Erst recht nicht, wenn es schwierig ist, einen neuen Job zu finden. Er blieb. Man muss Geduld haben, wenn man einer Frage nach dem Warum auf den Grund gehen möchte. Er zählte die Teller seines Mitarbeiters. Er zählte die gewaschenen Teller pro Stunde, pro Tag, pro Woche, pro Monat. Er beobachtete, wie der andere Löffel und Messer und Gabeln abtrocknete. Vor lauter Aufmerksamkeit achtete er zu wenig auf die Sauberkeit des eigenen Geschirrs. Bei der Menge konnte er mit dem anderen mithalten, die Qualität jedoch litt. Bud, so hieß der andere, schien mit seiner Aufgabe zufrieden. Er kümmerte sich um nichts als um seine Arbeit und nur um seine Arbeit. Das schien sein Geheimnis zu sein, er ließ sich nicht ablenken und konzentrierte sich auf Teller und Besteck. «Wie lange arbeitest du schon hier», fragte ihn der Neue, um irgend etwas zu sagen. «Ein paar Jahre», entgegnete Bud kurz. «Wird dir das nicht langweilig?», fragte er weiter, «jeden Tag und jahrelang die gleiche Arbeit?» «Kein Tag ist wie der andere. Jeder Teller erzählt eine Geschichte. Ich liebe die Arbeit. Du wirst dich auch daran gewöhnen. Mit der Zeit.» «Kann ich mir nicht vorstellen», unterbrach Elina ihre Mutter. «Abspülen soll Spaß machen? Die hatten früher bestimmt keine Haushaltshandschuhe und bekamen Spülhände.»

Ich heiße Elina  24. Teil

„Geduld, Elidusch, Geduld. Bud arbeitete also weiter fast wie ein Roboter aus einer der ersten Generationen und fast stumm. Und sein neuer Mitarbeiter sah ihm zu und vergaß darüber ganz die eigene Arbeit. Nach ein paar Monaten war eine kleine Gehaltserhöhung drin. Immer mehr Leute besuchten das Restaurant, immer mehr Teller waren immer öfter zu waschen. Buds Lohn stieg geringfügig. Der Neue ging leer aus. Er solle froh sein, wenn er den Job behalten dürfe.» Elina sah ihre Mutter erwartungsvoll an. «Und wie geht die Geschichte weiter?» «Das war es. Was glaubst du, warum hat der eine mehr Geld als der andere bekommen?» «Bud liebte seine Arbeit, der andere Kerl dachte nur ans Geld. Jemand, der seine Arbeit macht und nicht viel nach dem Warum fragt, hat es leichter im Leben.» «Das mag sein», entgegnete ihre Mutter. «Ich habe etwas vergessen. Du musst noch eins wissen. Bud war Weißer und der Neue war von schwarzer Hautfarbe. Der Neue hätte das Doppelte und genauso sauber oder sauberer arbeiten können wie Bud. Damals war es gang und gäbe, dass ein Weißer mehr verdiente als ein Schwarzer. Obwohl in der Verfassung der USA stand und steht, alle Menschen sind gleich. Papier ist geduldig.» Sie sah gedankenverloren aus dem Fenster. «Die, die anders sind, haben es immer schwerer. Wir sind anders, weil wir nicht alle hier geboren sind. Wir können die Sprache beherrschen lernen, als wären wir hier geboren. Unsere Namen klingen immer noch fremdländisch. Wir können unsere Namen ändern, was offiziell geht, aber nicht billig ist. Die Mentalität der Menschen, die hier geboren sind, unterscheidet sich von unserer. Sie bauen hier mindestens einmal im Leben ein Haus und sparen gerne und arbeiten noch lieber. Schaffa, schaffa, Häusle baua, sagt der Schwob. Wir leben nicht um zu arbeiten, sondern arbeiten, um zu leben. Als Ausländer musst du auch hier mehr im Vergleich zu einem Deutschen leisten. Manche sagen das Doppelte. Nur um das mindeste zu erreichen.» Elina schüttelte den Kopf. «Das glaube ich nicht. Du siehst zu schwarz.» «Ach ja? Es gibt einen Förderverein in deiner Schule. An und für sich eine gute Sache. Wir konnten nichts spenden. Glaubst du es ist Zufall, dass du in der vierten Klasse eine Hauptschulempfehlung von der Grundschule erhalten hast?» «Mama red keinen Unsinn, du siehst Gespenster. Ich dachte, ich wäre die, die an übersinnliches glaubt.» Lächelnd sah Rosalia ihre Tochter an. Auch sie hatte einmal an das automatisch Gute geglaubt, an das Gute im Menschen, ohne dass man sich selbst um seine Rechte kümmern musste. «An der Schule, auf die du gehen wirst, haben sie wieder einen Förderverein. An sich eine gute Sache. Nur die, die nichts spenden sind im vorneherein benachteiligt. Besser gesagt, ihre Kinder müssen es ausbaden. Arm sein ist keine von oben, von Gott oder dem Schicksal verordnete Strafe mehr. Nein, wer finanziell zurück geblieben ist, ist schuldig. Im Zeitalter von zweistelligen Zuwächsen bei gut angelegtem Kapital ist Armut keine Strafe von oben, sondern Lohn für Dusseligkeit oder Faulheit. Und die Kinder der Armut bekommen die Chance weiter wie die Eltern die Armut zu nähren und nicht mehr. Seit viele Eltern ihre Kinder aufs Gymnasium schicken möchten wird verstärkt gesiebt. Es braucht auch noch Arbeiter in Deutschland. Bildung und Arbeit sind wie Feuer und Wasser. Wo das eine ist kann das andere schwer sein.» «Mama ich verstehe nicht, was du meinst.»

Ich heiße Elina  25. Teil

«Hast du schon einmal einen Lehrer gesehen, der nebenher auf dem Bau jobbt? Kennst du einen Bergarbeiter, der seinen Doktor in der Tasche hat?» «Nein», sagte Elina. «Das heißt doch aber nicht, dass es sie nicht gibt. Nur weil ich keinen kenne.» «Ich gebs auf», seufzte die Mutter. «Du musst selbst deine Erfahrungen machen. Und es wird manchmal weh tun. Vielleicht sagst du in zwanzig, dreißig Jahren die gleichen Sätze zu deiner Tochter. Weil du ihr helfen willst, leichter durchs Leben zu kommen. Und sie antwortet dir: Mama du träumst. Wir leben im 21. Jahrhundert. Seit du geboren wurdest, hat sich viel geändert. Komm, wir gehen zusammen einkaufen. Smacks sind aus und einen Liter Milch trinken wir bis heute Abend locker.»  «Oh, ja. Einkaufen, einkaufen.» Elina hüpfte auf der Stelle, dass ihre schulterlangen Haare flogen. «Bekomme ich auch etwas? Auf süßsauer habe ich jetzt Lust. Apfelringe oder so.» «Ich weiß nicht was du daran findest. Wenn ich nur daran denke, zieht es mir den Mund zusammen. Aber wie du möchtest. Ausnahmsweise lassen wir die Milch weg und kaufen Apfelringe.» Gleich war Elina still. Sie wusste schon, was das bedeutete. Sie hatten wieder kein Geld. Traurig zog sie ihre Schuhe an und schnappte ihre Jacke. Ein letzter Blick zum Computer. Sie nahm sich vor, morgen in aller Ruhe in dem Leben ihres Vaters zu schmökern. Bis jetzt wusste sie nicht viel über ihn. Sie hatte auch nicht wirklich drängend gefragt. Die Gelegenheit, ihn auf diese Weise kennen zulernen war irgendwie prickelnd. Es war, als ob sie das Tagebuch eines älteren Bruders gefunden hätte. Wenn jemand nicht annimmt, dass andere seine Gedanken lesen, schreibt er die Wahrheit, dachte sie. So mit sich selbst beschäftigt, bemerkte sie ihre Freundin Bella zuerst nicht, die auf der anderen Straßenseite stand und wie verrückt winkte. Sie kam nach beiden Seiten schauend herüber. Seit ihr Bruder einen Autounfall hatte und sich nur noch im Rollstuhl fortbewegen konnte, war sie sehr vorsichtig im Straßenverkehr. Bella war nicht ihr richtiger Name. Eigentlich hieß sie Isabella, was soviel wie die Schöne hieß. Bella war hübscher, fand sie. Ihre Freundin nannte sie auch Elidi und «in der Kürze liegt die Würze», sagte Papa.

Ich heiße Elina  26. Teil

«Die Frau Baumgärtner war heute aber wirklich krass drauf», sagte Bella und bekam dafür einen strafenden Blick von Rosalina. «Äh, ich meine sie hatte heute schlechte Laune. Sicher hat sie Eheprobleme.» «Sie ist nicht verheiratet, soviel ich weiß.» «Aber sie ist doch bestimmt schon über fünfzig.» «Vielleicht war sie es früher, wer weiß», entgegnete Elina. Das Thema gefiel ihr nicht. Fehlte nur noch, dass Bella die Strafarbeit erwähnte. Rosalina hielt wenig davon, wenn man ihr etwas verheimlichte. «Was machst du schon hier? Habt ihr eine Freistunde?» «Nein, Frau Baumgärtner ging es nicht so besonders. Sie hat uns früher nach Hause geschickt. Leider haben wir dafür mehr Hausaufgaben, als sonst.» «Ihr könnt euch ja später treffen und zusammen lernen», sagte Rosalina. «Das ist eine super Idee», freute sich Elina. «Wie wärs mit zwei Uhr? Kommst du zu mir?», fragte Bella. «Okay, bis dann.» Sie verabschiedeten sich mit Küsschen auf beide Wangen. Das hatten sie in einem französischen Film gesehen und sie fanden es einfach megacool. Der Supermarkt überraschte Elina immer wieder aufs neue. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie all die Sachen aus vielen Ländern hier in einen kleinen Markt auf der Wanne kamen.

Auf der Wanne hieß ihr Stadtteil. Da waren Kiwis aus Neuseeland und Orangen aus Spanien und Trauben aus Italien und die Bananen kamen auch aus Spanien. Oliven mochte sie nicht, es war faszinierend, dass sie aus Griechenland kamen. Wenn sie eine Banane aß, stellte sie sich vor, sie sähe die Staude, an der sie gewachsen war und den Arbeiter, der sie zum Abtransport brachte. Ach, wäre sie nur schon erwachsen, hätte einen guten Beruf und davon jeden Monat so viel Geld, dass sie dorthin gehen konnte, wo all die tollen Sachen herkamen. Sie dachte oft so und weil sie oft daran dachte, älter zu sein und zu reisen war sie auch oft traurig. Sie kauften nur ein wenig ein. Sicher hatten sie wieder kein Geld, aber Elina sagte nichts, um ihre Mutter nicht daran zu erinnern. Hauptsache sie waren gesund, dachte sie. Vater sagte das auch immer wie zum Trost oder wie als Ausrede. Es hörte sich so an wie: Bekommen wir nicht Reichtum oder zumindest ein Auskommen, so haben wir etwas, was viele Reiche nicht haben aber gerne hätten: Gesundheit.

Zuhause angekommen läutete das Telefon. Eine Freundin von Mama war am Apparat. Rosalina hatte sie schon lange nicht gesehen und vereinbarte ein Treffen für den Nachmittag. Elina rief gleich Bella an und sie änderten ihren Treffpunkt. Bella stand Punkt zwei vor der Tür. Rosalina ging kurz darauf. Sie war sicher froh, dass sie ihre Tochter nicht allein zurücklassen musste. Bella suchte ohne Umschweife nach der Fernbedienung. Sie war fernsehsüchtig. Sie glaubte allen Ernstes, sie könne nur lernen oder sich unterhalten oder überhaupt existieren, wenn nebenher der Fernseher lief. Sie schien mit Elinas  Bruder Salla wesensverwandt zu sein. Dabei achtete sie noch nicht einmal darauf, welches Programm gewählt war. Seltsam. Vielleicht lag es daran, dass sie ein Einzelkind war und sie niemand anderes hatte als den TV, wenn ihre Eltern bei der Arbeit waren. Elina ließ sie gewähren, zog sie dann aber zum Computer hinüber. «Hast du ein Spiel?», fragte Bella erwartungsfroh. «Nein, etwas viel besseres.» Sie schaltete den Computer an.

Ich heiße Elina  27. Teil

«Darfst du denn da ran?», fragte Bella. «Wer viel fragt, bekommt viele Antworten», zitierte Elina ihren Opa. Sie öffnete die Datei mit der Bezeichnung Der Müll «Träterätä. Sehen wir mal, was mein Paps bei Nacht so schreibt. Ich glaub, es ist eine Geschichte von früher über seine Arbeit als Zugreiniger.»  «Was, er hat Züge geputzt?» «Ja», Elina suchte nach Worten, «weil er sein Studium bei Tag finanzieren musste.» «Lies vor, die Schrift ist so klein», sagte Bella. Elina beugte sich vor. Sie begann zu lesen. «Der Müll von Stefan Wadenbeisser. Die Gedanken kamen und gingen. Es waren immer die gleichen.» «Welche Gedanken?», fragte Bella. «Pst», machte Elina. «Warte ein bisschen, bis wir wissen, wie es weiter geht.» Sie fuhr fort zu lesen. «So wie die Züge scheinbar immer die gleichen waren, die kamen und abfuhren auf scheinbar immer gleichen Gleisen. So eingefahren waren seine Gedanken schon, dass es zunächst schwer schien, bewusst andere Richtungen einzuschlagen, den immer gleichen Gedankenfahrplan zu ändern. Wie viele Wagen hatten sie schon gereinigt? Eine leichte Frage was das heute betraf. Wie viele Wagen hatten sie in sechs Jahren gereinigt und wie viele würden es nach dreißig Jahren sein. Er sah nach oben in den sternklaren Himmel, sah den Mond ihn auslachen und sah die Sterne, die unzähligen, so zahlreich wie die Aschenbecher, die er bis zum sechzigsten Altersjahr leeren würde, er sah die unzählbaren Papierschnipsel, die Berge von Zigarettenkippen eigenhändig von ihm zusammengekehrt, die ihn unter sich begraben könnten wie ein Bergrutsch die Hütte, die sich schutzsuchend an den Steilhang schmiegt.» Elina machte eine kurze Pause. Bella schwieg. Sie schien interessiert. «Klapp, klapp. Die Arbeit hatte ihn wieder. Er öffnete weiter Aschenbecher um Aschenbecher in den Wagen auf Gleis 27. Und schloss sie nach einem Augenblick. Sie waren leer und er war es zufrieden. So musste es sein. Es war sein Job nachzusehen, nachzuprüfen. War die Qualität erfüllt, konnte der Prüfer der Zuggesellschaft kommen und zufrieden sein. Würde er zufrieden sein? Wo befand sich noch ein Aufkleber, den er vielleicht übersehen hatte? Lag noch eine Zeitung oben auf der Ablage? War eine Armlehne nicht nach unten geklappt? Alle Sonnenblenden mussten nach oben geschoben, die Vorhänge aufgezogen und in die Halterung geklemmt sein. Waren die Sitze sauber, die Heizung gewischt, der Boden mit Mob gereinigt? Gab es noch irgendwo außergewöhnliche Verunreinigungen? Waren Kaugummis entfernt und Schmierereien mit Spezialreiniger beseitigt worden? Nein, der Bodenbelag wies Flecken aller Art auf. Das war auch sein Job. Er ließ seinen Mob über den Boden gleiten, als wäre es eine Leichtigkeit. Diese Leichtigkeit hatte sich mit den Jahren herausgebildet. Täglich bezahlte er dafür einen hohen Preis. Die Schmerzen waren allgegenwärtig geworden. Er registrierte sie nur noch, versuchte sie zu verdrängen, indem er um so verbissener, umso konzentrierter sich auf die Arbeit stürzte. In Arbeit oder arbeitslos. Die Firma sprach mit den Kollegen, versprach Besserung. Wie schon seit Jahren. Fiel er darauf herein? Die Drohungen wurden massiver. Der kleine Vorarbeiter im Schatten der großen Tochter der Zuggesellschaft. Die Tochter hatte einen harmlos, ja vertrauenerweckend klingenden Namen. Zugreinigungs GmbH, kurz ZRG genannt. Sechs Jahre arbeitete er für sie. Vier Jahre als Vorarbeiter gegen die Kollegen. Sechs Jahre hatten sie Reisezugwagen gereinigt. Wie viele waren es bisher? Er durfte sie nicht zählen, sonst würden sie sich ineinander schieben, übereinander, sich vor ihm auftürmen und ihn erschlagen.» Bella stieß einen kurzen Pfiff aus. Elina war es nicht ganz wohl in der Haut. Zu viel neues für sie stand da. Lieber hätte sie alleine weiter gelesen. Wer weiß was da noch kommt, dachte sie. Sie stockte. Bella schob den schwarzen Sessel in dem Elina saß beiseite. Bist du müde? Jetzt bin ich dran. Sie suchte kurz die Stelle, an der Elina aufgehört hatte zu lesen und fuhr fort. „Herr Wadenbeisser, der Doppelstockzug Gleis 28 wurde nicht richtig gereinigt.» „Wann?» „Freitag. Der Prüfer hat den ganzen Zug abgezogen. Die ZRG bekommt kein Geld dafür.» „Herr Winter, wir haben zuwenig Leute, zuwenig Zeit, die Züge nach Vorschrift zu reinigen.» „Es gibt nicht mehr Kollegen, ich kann ihnen auch nicht mehr Stunden geben. Werden sie in der vorgegebenen Zeit nicht fertig, haben sie eben vorher zu langsam gearbeitet. Die Gesellschaft erwartet von uns saubere Züge. Haben wir uns verstanden?» Jawohl, jawohl, jawohl. Er sah die Jawohls gleich Wagen eines Zuges an sich vorüberziehen, unendliche Jawohls. Wie stark mußte die Lok sein, die so viele Jawohls in sechs Jahren gezogen hatte? Sechs Jahre und viele Stützpunktleiter waren vergangen und jeder hatte das Arbeitspensum drastisch erhöht.

Ich heiße Elina  28. Teil

Er reinigte nun Tag und Nacht. Bei Nacht leerte er Aschenbecher, füllte Müllsäcke, kehrte erste- und zweite Klassemüll zusammen. Der Abfall in der ersten war hochprozentig. Leere Flachmänner und Bierdosen unter den Sitzen zeigten ihm, dass eine Seite des Erfolges eine Schattenseite war, in der es nach Angstschweiß und teurem Parfüm duftete und Fisherman`s friend der einzige Freund schien.» Bella lachte. «Dein Papa hat Humor.» Sie las weiter. «Abfall in der zweiten Klasse war ehrlicher. Nicht versteckt, dafür weit gestreut, ausgebreitet vor den Augen des Reinigers. Und er sah, es war gut. Er reinigte nun Tag und Nacht. Bei Tage schlief er, seine Frau meinte scherzend, er müsse doppelten Lohn bekommen. Offenbar leerte sein Traumich weiter Aschenbecher, einen nach dem anderen, offenbar ließ ihn die Arbeit nicht mehr los, offenbar war sie seine Bestimmung, sein Traumberuf. War heute alles korrekt gereinigt? Die sechs Wagen von Gleis zwei im Personenbahnhof würden bald abfahren. Waren alle Aschenbecher leer? Eine Zigarette vergessen ein Fehler. Waren die Toiletten o.k.? Ein Fehler im WC zählte doppelt. Eine bestimmte Anzahl von Mängeln in einem Wagen und der Qualitätsprüfer zog den ganzen Zug ab. Waren alle Kaugummis entfernt? Waren Schmierereien mit Spezialreiniger beseitigt? War der Boden komplett mit Innenreiniger eingesprüht, war das Wasser mit Schiebern entfernt, war mit Bodenmob nachgewischt worden? Waren die Ablagen ohne Staub, alle Glasflächen gereinigt, waren die Wasserbehälter gefüllt, waren die WC`s abgesaugt? Der Mitarbeiter im Stellwerk 6 rief ihn zu sich. Der Fahrdienstleiter meine, man solle bitte den Steuerwagen von außen reinigen. Ein Selbstmord.» «Ups», machte Bella, ist das wirklich so passiert? Elina zuckte die Achsel. «Ich glaube das passiert immer noch. Nur arbeitet mein Papa nicht mehr dort. Das war ihm alles zu krass. Ja, aber es ist interessant, wenn man es nicht selbst erlebt, sondern nur lesen darf.» Sie las weiter. «Langsam bereitete er Schrubber und Eimerwasser vor. Es würgte ihn, es drängte etwas nach oben. Er versuchte an etwas anderes zu denken. Das lachende Gesicht seiner Frau, die Wünsche der Kinder nach Inlineskater und einem Spiel- und Lerncomputer. Der Lokführer war in die Hocke gegangen. Sein Gesicht leuchtete bleich in der Dunkelheit. Die Hand, mit der er die übliche Taschenlampe hielt zitterte leicht. Rot glänzte es seitlich und an Ecken des Fahrgestells rot und weißlich. Wild sei das nicht gewesen, sonst müsste man Haare sehen, meinte der Lokführer. Ja, sagte er, beinahe hätte er jawohl gesagt. Und es regte sich etwas in ihm. Er wusste nicht was es war. Er durfte in seinem Innern nicht danach forschen. Zuviel Arbeit wartete noch, bevor er schlafen gehen durfte. Dieser Doppelstockzug, dann noch einer, dann noch ein paar Wagen. Irgendwann zwischen 5:30 und 7:30 Uhr war es Zeit zu schlafen, bis 10 oder 11 Uhr oder länger, dann Zeit zu Essen, dann sollte er zur Uni und wieder die Arbeit gegen 18 Uhr.

Ich heiße Elina  29. Teil

Oh wie musste er die Arbeit lieben, der er sich verschrieben hatte. Und alles nur wegen einer Zeitungsanzeige damals vor sechseinhalb Jahren. Im Mai. Er war im dritten Semester und wollte unabhängig sein. Finanziell unabhängig von den Eltern, wie er stolz allen erzählte. Und selbständig. Und begab sich in eine andere Abhängigkeit. Die Tür zum WC war nicht sauber gewischt. Ahnungsvoll öffnete er sie und klappte routinemäßig den Aschenbecher auf. Ein Klumpen Toilettenpapier kam zum Vorschein, das Spiegelglas wies im unteren Bereich Wasserflecken auf, im Toilettenbecken waren frische Benutzungsspuren. Der Kollege hatte nicht sauber gearbeitet. Er lief zwei Wagen in Richtung Bahnhof und stellte ihn zur Rede. Der Kollege, ein Grieche, dieser mürrisch, dabei kräftig und groß, das Gerücht ging um, er wäre früher zur See gefahren, sah ihn nur an, nahm das Zweieimertragegestell auf, den Wischmob, die Alditüte mit Handpapier und machte sich auf zu tun was die Firma von ihm erwartete. Vor dem Vorarbeiter hatte er wenig Respekt. Dieser stand im Schatten der Firma. Und sie warf einen großen, mächtigen Schatten diese Firma, einen kalten aber schützenden.

Sie war Herr über Arbeit und Brot, diese Firma. Und weiter ging er, der Vorarbeiter immer auf der Suche nach Versäumnissen. Abenteuer pur. Würde es ihm heute gelingen, den Anforderungen der Firma zu entsprechen? Die Ungewissheit gefiel ihm nicht, weiter lief er von Aschenbecher zu Aschenbecher, von Toilette zu Toilette. Immer wie auf der Flucht und nie zufrieden. Herr Winter war auch nie zufrieden. Der Vorarbeiter musste versuchen, den Stützpunktleiter zu kopieren, die Härte, den Druck, den er empfing weiterzugeben an die Kollegen, sonst ging er daran zugrunde. Endlich war er erschöpft. Alles tat weh. Teilweise noch von gestern und dem Tag davor. Ein Tag in der Woche frei. Das war zuwenig, um sich zu erholen. Die Schmerzen waren sein ständiger Begleiter geworden und von Tag zu Tag steigerte sich im gleichen Maß wie die Erschöpfung auch die Bitterkeit. Endlich war er erschöpft. Sein Blick fiel zu Boden. Der Boden. übersät mit eingetrockneten Kaffee- und Cola- und Bierflecken und undefinierbaren Verschmutzungen, die dem  Kehrbesen standgehalten hatten. Wie lange noch? Wie lange blieben diese fünf Wagen hier, bevor die Standzeit zu Ende war, die Standzeit, die nie zur Reinigung reichte. „Herr Wadenbeisser, im Personenbahnhof wird nicht gereinigt.» Er zuckte zusammen. Die Stimme des Vorgesetzten hallte stark und tief und mächtig aus der jüngsten Vergangenheit ins heute. Es war als würde er nur wenige Meter hinter ihm stehen. Kalter Schweiß brach aus. Ein schneller Blick überzeugte ihn. Herr Winter war nicht zu sehen. Vielleicht saß er drüben im dunklen Zug auf Gleis 27 und überwachte den Arbeitsablauf hier.

Ich heiße Elina  30. Teil

„Was hat Priorität, Herr Winter? Keine Reinigung im Bahnhof oder saubere Züge?», wagte er zu fragen. „Im Bahnhof wird nicht gereinigt.» Sie reinigten immer im Bahnhof weiter. Reinigen war das kleinere Übel. Reinigen, das hatten sie gelernt bis zur Erschöpfung. Waren die Züge nicht sauber, bedeutete das vielleicht den Verlust des Arbeitsplatzes. Und so versuchten sie nach Vorschrift zu reinigen. Aber das gelang ihnen nie ganz. Immer gab es Abzüge und je erschöpfter sie im Laufe der Jahre wurden, umso größer wurden die Abzüge, umso größer die Angst ersetzbar zu sein, ohne Beruf und ersetzt zu werden. Sie reinigten und putzten und wischten und besten und leerten und schwitzten und aßen und schliefen und schimpften und streiteten. Streiteten untereinander, in der Familie zuhause, gegen Firma und Gott und die Welt. Nein, mit der Firma streitete man nicht. Die Firma war ihr Gott und die Züge waren ihre Welt geworden. Keine Zeit blieb Sonntags um 10 Uhr in die Kirche zu gehen, Sonntags um 10:13 Uhr kam ein 628er. Zwei Wagen, die innen gereinigt, die in der Waschanlage von außen gewaschen werden wollten. Nach Plan. Der Plan war das neue Wort Gottes, verkündet in ihrer neuen Kirche, dem Zugbetriebswerk. Der Plan hieß ZK2-Liste. Sonntag Nachmittag kam wieder ein 628er nach Plan an. Same procedure as every Sunday. Und hatten sie einen freien Tag pro Woche, so war das schön. Schön für sie, denn sie schliefen vor Erschöpfung in der Regel durch. Was dachten wohl die Kinder? Was trieb sie um, welche Sorgen und Probleme hatten sie? Es blieb keine Zeit, sie zu fragen. Nach rund 20 Stunden Schlaf lassen die Schmerzen nach. Nach 20 Stunden Schlaf und einer Dusche fühlst du dich wie neu geboren. Und schon denkst du wieder an den Abend, an die Nacht. Seine Tochter verschlief des öfteren die Schule.» Elina nickte eifrig. «Er schreibt über mich», sagte sie und wurde vor Scham und Eifer ganz rot im Gesicht. Er und seine Frau kamen in der Regel zwischen 7 und 7:30 Uhr in der Früh nach Hause. Sie vergaßen ganz ihre Tochter zu wecken, so müde waren sie und erschöpft und fielen ins Bett. Ein Couchbett, das bei Tage als Sofa dienen sollte, denn sie hatten wenig Platz. Nur zwei Zimmer. Es lohnte nicht das Bett, wenn sie beide aufstanden, wieder in ein Sofa umzufunktionieren. Abends sprachen sie etwas mit den Kindern und gingen. Der Junge, 14 und das Mädchen, 9 waren in letzter Zeit notgedrungen sehr selbständig geworden. Sie mussten sich um die Dinge des täglichen Bedarfs selbst kümmern. Ihre Eltern hatten nichts anderes im Sinn, als Züge zu reinigen, auf das es ihren Kindern einmal besser gehen solle. Als wäre die finanzielle Seite das Wichtige an der Kindererziehung.

Ich heiße Elina  31. Teil

Sie aßen, sprachen etwas mit den Kindern und gingen. Zurück an den Ort, den sie liebten und hassten. Der Ort, der Rücken -und Kopfschmerzen bereitete. Innenreiniger schwängerte dort die Luft, bildete einen dünnen Film auf Haut und Haar und rötete regelmäßig Netzhäute. «Hast du davon gewusst Elina?» Bella fragte unvermittelt. «Wovon?», erwiderte Elina. «Was deine Eltern so machen und denken. Man müsste ein Gesetz erlassen, dass alle Eltern Tagebuch schreiben müssen. Sie reden meist nicht viel mit uns, weil sie meinen, wir wären zu klein, um sie zu verstehen. Würden alle Eltern schreiben, so wäre es viel leichter für die Kinder sie zu verstehen und wir würden sie viel gerner haben. Dein Papa mag dich sehr, glaube ich. Er tat diese Arbeit, obwohl er sie hasste und das alles, damit es dir und deinem Bruder einmal besser geht.» Bella beugte sich vor. «Sie waren abhängig. Ähnlich den Süchtigen, die sich auf Zugtoiletten den Schuss setzten und ohne Arg die gebrauchte Spritze in den Handpapierbehälter warfen.» «Ist ja krass», sagte Elina.» Auf dass der handschuhbewehrte und doch so schutzlose Reiniger hineinfasse, sich steche und angstvoll ein Jahr abwarten müsse, bevor er nach mehreren Untersuchungen davon ausgehen könne, erkrankt zu sein.» „Mit Hepatitis ist nicht zu spaßen», hatte der Vorgesetzte gesagt. „Gibt es keine Möglichkeit, sich zu schützen?» „Leider kommt die Firma die kostspielige Impfung zu teuer», sagte der Vorgesetzte und lächelte. Lächelte wie immer. Als hätte er einen Witz gemacht. Wir lieben die Arbeit, wir lieben das Risiko, wir lieben das Abenteuer, dachte der Familienvater und die Firma, die Firma liebt die Arbeitskraft und das Geld und die Ruhe. An der Ruhe besonders stille Arbeiter, die ja sagen und jawohl. Neins könnten den Status Quo verändern, Neins kosten Erklärungen, Neins sind kräftig, aufrecht unbeugsam und ohne Kompromiss geschenkt von sich verbeugenden, demütigen Jas. Jas, die sich billig verkaufen, sich hingeben, benutzt werden und weggeworfen wie Papiertaschentücher ohne Chance auf langjährige Waschbarkeit und Wiederverwendung. Schneutz und weg. Die Firma war der unbeugsame, harte Gott. Ein Gott des Alten, nicht des Neuen Testaments. Ein Gott, der kein Nein duldete. Und sein Vorarbeiter war kein Engel. Wie lange noch?

Ich heiße Elina  32. Teil

Mobarbeit gehörte zu seinen Aufgaben, einer von vielen. Rosalina, seine Frau, hatte wie gewöhnlich in jedem Wagen einen Bodenwischmob zum Wechseln gelassen. Er füllte den blauen Eimer mit kaltem Wasser. Bei Gleis 28 war kein warmes abzapfbar. Die rötliche Flüssigkeit hieß Innenreiniger und duftete parfümiert. Der angenehme Geruch täuschte ihn nicht. An warmen Sommertagen, wenn abends die Wagentemperatur beim Abstellgleis auf 35 C und mehr angestiegen war, verursachte die Reinigerlösung einen nicht enden wollenden Hustenreiz bis hin zu Übelkeit. Ohne Innenreiniger kein sauberer Boden. Die Decke zu reinigen war mit Abstand das schlimmste. Zuerst wurde sie mit Innenreiniger eingesprüht. Es tropfte von der Decke wie in einer Autowaschanlage. Der Innenreiniger benetzte ihre Haare. Mehrere Kollegen hatten weiße Strähnen, obwohl es weder Fasching war noch waren sie über dreißig, so dass man sagen hätte können, das Alter mache sich bemerkbar. «Stimmt», Bella war ganz außer sich», dein Paps hat schon ein paar weiße Haare. Diese schreckliche Firma», sie war den Tränen nahe. «Lies du weiter Elina, ich kann gerade nicht.» Elina räusperte sich. «Entweder oder. Sie hatten keine Wahl. Nur die zwischen einem anstrengenden Nein und einem leichten Ja. Wie verführerisch einfach war es jawohl zu sagen. Nein sagen hatten sie in sechs Jahren nicht gelernt. Ihr Gott sorgte sich um ihre Zukunft. Und um die seine. War er nicht unsterblich? War er verletzbar? Seit kurzem nahm er nur Gefolgsleute auf Zeit in seine Reihen auf. Befristete Verträge hieß das harmlos. Die Firma könne sich Leute, die regelmäßig krank seien nicht leisten, hatte der Vorgesetzte des Vorgesetzten, Herr Berg, ihnen allen erklärt. Zu zweit saßen sie ihnen gegenüber damals im Juli, dort im Kaffeeraum. Zwei Vorgesetzte nur gegen sechs anwesende Kollegen, aber diese zwei waren so wichtig, was sie sagten so eindeutig, als hätte Gott selbst durch sie gesprochen. Die Firma werde sich die Krankengeschichte jedes einzelnen genau ansehen, hatte er eindringlich gesagt, und bei Vertragsende entscheiden, ob der jeweilige Mitarbeiter einen neuen Vertrag bekomme oder nicht. „Also nehmt euch zusammen». Vor dem Fahrplanwechsel war das gewesen. Es gab zweimal im Jahr den Fahrplanwechsel. Zweimal im Jahr machte Angst die Runde, Angst machte unter den Mitarbeitern die Runde Ende Mai und Ende September. Sie warfen sich die Angst zu wie einen Ball aus Beton. Jeder wollte ihn fangen, ging unter dem Gewicht in die Knie und keiner wollte ihn behalten.

Ich heiße Elina  33. Teil

„Bekomme ich einen neuen Vertrag oder etwa nicht? Doch sicher, wer arbeitet sonst so viel, sie finden keine anderen, die so verrückt sind wie ich. Du warst einmal ein paar Tage krank. Außerdem kommst du oft zu spät zur Arbeit». „Ich? Was soll ich tun, wenn der Arzt sagt, ich bin krank, bin ich krank. Es kommt wieder mehr Arbeit zum Fahrplanwechsel. Sicher brauchen sie uns weiter.» „Denkst du», sagte der Dritte, „für jeden Ausfall wegen Krankheit schickt die Firma extra einen Zeitarbeiter. Die Kosten erhöhen sich». Gott vergisst nie. Fahrplanwechsel bedeutet auch Vertragsende. Riens ne vas plus. Die Karten werden neu gemischt, sobald die Schicksalskugel gefallen ist. Der Vorarbeiter schwieg. Er war der Vorarbeiter der Firma und nicht der Vorarbeiter der Kollegen. „Herr Berg, wir haben hier ein großes Problem.» Der Vorarbeiter ahnte böses. Der mutige Arbeitskollege saß links von ihm und links von seiner Frau. „Die Stunden, die uns Herr Winter gibt reichen nicht.» „Ich kenne den Dienstplan nicht, zweifle aber nicht, dass Herr Winter den Dienstplan richtig berechnet hat.» „Das kann nicht sein. Wir arbeiten zwölf Stunden und bekommen teilweise weniger als sechs bezahlt. Stefan hol den Dienstplan.» Der Vorarbeiter stand auf. Insgeheim bewunderte er den mutigen Griechen. Das Wort Gottes wurde angezweifelt. Vielleicht änderte sich doch etwas, wenn man sich wehrte? Vielleicht wurde seine Frau Rosalia entlassen, die erst eine Woche mit ihm zusammen zur Nachtschicht ging. Sie war die einzige Frau hier, Belohnung für sechs Jahre Arbeit? Er brachte den Dienstplan in den Kaffeeraum. Die rechte Hand Gottes warf einen Blick darauf. „Habe ich diesen Plan von ihnen, Herr Winter? „Ja, ich habe ihn ihnen zugefaxt.» „Das glaube ich nicht.» Der mutige griechische Arbeitskollege beugte sich über den Tisch. „Heute ist laut Dienstplan Arbeitsbeginn um 20 Uhr. Jetzt haben wir 18:15 Uhr. Gleich kommt ein Wendezug nach Gleis 28, den wir reinigen müssen. Sieben Wagen. Reinigen und Wasserfüllen. Bis 18:30 Uhr kommt ein 628er und ein 627er zur Reinigung ins Zugbetriebswerk. Seit ungefähr 17 Uhr stehen 8 Wagen auf Gleis 25 und – er sah auf seine Uhr – seit 10 Minuten 8 Wagen auf Gleis 26. Wieso steht im Dienstplan die Arbeit fange um 20 Uhr an? Wir sind jeden Tag Montag bis Freitag um 18 Uhr hier. Am Wochenende etwas später. Wieso fängt dieser Dienstplan viel später an? Er stimmt nicht!» Der mutige Grieche sagte den letzten Satz mit dem Brustton der Überzeugung und die Kollegen, soweit sie hatten folgen können, murmelten Zustimmung und nickten wohlwollend. Entschlossener fuhr der mutige Grieche fort: „Arbeitsende ist 2 Uhr Nachts…. Wir arbeiten viel länger.» „Die Situation ist überall gleich. In Ulm bekommen sie nicht mehr Stunden bei gleicher Leistung wie in Tübingen oder Heilbronn». Die Stimme des Erzengels klang viel ruhiger, weniger gebieterisch, als die des Stützpunktleiters, weniger gebieterisch, als es seiner Stellung entsprach. „Die Zuggesellschaft bezahlt uns als Tochterfirma für die R2-Reinigung weniger als vorher. Das bedeutet für euch mehr Arbeit bei gleicher Bezahlung.» „Noch mehr», sagte der mutige Grieche, aber viel mehr war nicht zu bereden. Diese Treffen glichen sich. Es war immer das gleiche Schema. Vorgesetzte kamen kurz vor oder mitten in der Arbeitszeit. Beschwerden wurden so kurzgehalten. Wer wollte schon reden, wenn offensichtlich war, dass die Antworten stereotyp waren und nichts dabei herauskam. Allenfalls blieb zu wenig Zeit, die Züge zu reinigen. Und fuhren sie ohne Reinigung am Morgen, so war mehr im Argen, als mit stundenlangem Diskutieren bei den Hartköpfigen zu erreichen gewesen wäre. Ja, die Hartköpfigen nannten sie die Vorgesetzten inzwischen, die, die sich durch Zureden nie erweichen ließen.

Ich heiße Elina  34. Teil

Sie wollten es schaffen, das Arbeitspensum. Und nicht wegen der Liebe zur Arbeit, nein, das war eine Beziehung zur Gewohnheit. Nein, die Angst vor einer Abmahnung begleitete jedes Öffnen der Aschenbecher, jede Glasreinigung, jeden Kaffee aus dem Automaten, um volle Leistung bringen zu können. Zwei Abmahnungen gleich eine Kündigung hatte der Vorgesetzte wiederholt gesagt. Ein nicht gereinigter Umlauf, ein Zug, der Morgens ohne Reinigung fuhr, konnte als Arbeitsverweigerung ausgelegt werden. Arbeitsverweigerung gleich Abmahnung. Die Furcht, die Angst begleitete sie auf all ihren Wegen. Nach der Arbeit fuhren sie im Auto mit ihr nach Hause. Sie gingen mit ihr ins Bett. Sie war ihnen näher als ihre Ehefrau, näher als ihre Kinder, sie war ihnen näher als der Blaumann, den sie zur Arbeit trugen, näher als die Badehose im Freibad, näher als alles, was ihnen nahe ging. Sie saß ihnen im Nacken, diese existentielle Angst, sie drückte schwerer, als die Müllsäcke, die sie nach Arbeitsende auf dem Rücken kilometerweit zum Müllcontainer transportieren mussten. Sie war nicht abzuschütteln, diese Angst, wie sich Regentropfen abschütteln lassen, die von Regenmänteln bei jeder Bewegung abperlten. Es gibt andere Arbeit, versuchten sich die Kollegen zu beruhigen. Andere Arbeit gab es für andere Leute. Für Arbeitnehmer, die die deutsche Sprache beherrschen, für Arbeitnehmer, die eine abgeschlossene Berufsausbildung haben, für Arbeitnehmer, die bei Tag nicht schlafen müssen, um ausgeruht abends Reisezugwagen zu reinigen. Andere Arbeit gab es für andere Leute. Für Arbeitnehmer, die Zeit haben Zeitung zu lesen und dort die Stellenangebote. Für Arbeitnehmer ohne Familie, ohne die Last der Verantwortung, ohne die Freiheit zu denken und zu handeln. Arbeit gab es für andere. Sie waren seit sechs Jahren auf der Suche. Seit sechs Jahren wussten sie, es konnte nicht gut gehen. Nicht bis zur Rente. Zwei, drei Mahnungen nur für ein paar Jahrzehnte. Ach ja, die Firma wollte ja nicht sie, sondern nur ihre Arbeitskraft. Und die würde verbraucht werden auf dem Weg dorthin und schon lange vorher. Die Firma wollte nicht sie, sie wollte ihre Arbeitskraft. Darum die befristeten Verträge? Darum der massive Druck? Die Gewerkschaft ließ sich nicht blicken. Sie war wohl genauso hilflos wie sie, wenn stimmte, was der Vorgesetzte des Vorgesetzten gesagt hatte. Die Situation der Reiniger sollte in jedem Bahnhof gleich sein. Gott der Unternehmer spekulierte darauf, dass viele der jahrelangen Mitarbeiter mit festem Vertrag freiwillig ausschieden. In waren jetzt befristete Verträge. Die Kollegen waren dabei Atheisten zu werden. «Was ist ein Atheist?», fragte Bella. «Ich glaube, das ist jemand, der nicht an Gott glaubt. Ich bin mir aber nicht sicher. Soll ich im Lexikon nachsehen?» «Nein, ist nicht so wichtig. Ich schau zuhause nach. Oh je, es ist schon vier. Ich muss gehen. Wenn du willst, können wir doch morgen weiterlesen», schlug Bella vor. «Ich bin gespannt, wie es weitergeht. Bestimmt kauft er sich eine Pistole und erschießt am Ende seinen Chef.»  «Stefan? Nein, der bestimmt nicht.» Elina lachte lauthals so absurd kam ihr das vor.

Ich heiße Elina  35. Teil

«Ich weiß nicht, ob ich morgen kann. Mal sehen.»  » O.K. Bis dann.» Sie verabschiedeten sich mit Küsschen auf beide Wangen. Als Bella gegangen war, ging Elina in die Küche und begann sich eine Stulle mit sehr, sehr viel Butter und einer megadicken Schicht Schokoladenaufstrich zu schmieren. Zum Teufel mit Diät und Schlankheitswahn. «Solange Platz in der Hose ist und der Appetit groß darf gegessen werden», sagte Opi immer. Samstags fuhr sie mit ihrem Vater immer zu dessen Vater. Er lebte allein auf dem Lande und man musste fast zwei Stunden hin und zwei Stunden zurück fahren, nur um ihn zu sehen, ihm etwas zur Hand zu gehen und ein gutes Gefühl zu bekommen, dass man etwas sinnvolles getan hatte. «Ob du mich auch besuchen kommst, wenn ich alt bin?», fragte Stefan immer auf der Rückfahrt. Er sagte es ziemlich genau auf halber Strecke. Sie hatte einmal den zweiten Kilometerzähler auf Zero gestellt. Den brauchte man, um zum Beispiel zu sehen, wie weit man mit einer Tankfüllung gekommen war und konnte so ausrechnen, wie viel das Auto auf 100 Kilometer verbrauchte. Sie hatte ihn auf Zero gestellt, um herauszufinden, wann Stefan die gewohnte Frage stellte. Und tatsächlich fragte er immer in etwa auf halber Strecke. Sie antwortete natürlich mit: «ja». Wenn er solche Fragen stellte, ging es ihm nicht gut. Wäre sie ehrlich gewesen, hätte sie «Ich weiß es nicht» sagen müssen. Wer konnte heute schon ahnen, was in vierzig oder fünfzig Jahren sein würde. Ansonsten schwieg Stefan auf der ganzen Fahrt. Wahrscheinlich dachte er an früher, als er noch ein Kind gewesen war und daran, was inzwischen passiert war. Sie kannte das schon von ihm und nahm deshalb immer ihren Walkman mit. Stundenlang zu schweigen, war nicht ihr Ding. Sie war erst elf. Nach vielen Jahren, wenn sie mehr erlebt hatte, war es sicher schwerer, die Gedanken zu kontrollieren und nur an das zu denken, an das man denken wollte. Die Stulle war weg. Bedauernd schaute sie auf den leeren Teller. Sie wollte unbedingt in den Ferien nach Düsseldorf. Das stand in ihrer persönlichen Wunschliste ganz oben. Dort wohnte die Schwester ihrer Mutter zusammen mit ihren Mann und ihren drei Kindern. Sie erinnerte sich noch gut, wie es war draußen mit den anderen Kindern im Hof des Asylantenheims zu spielen. Sie vermisste alle. Ab und zu schrieb sie einen Brief und sie erhielt auch schon mal Post. Ein Brief ihrer Cousine beunruhigte sie. Sie war ebenso wie Elina in Deutschland geboren. Sie sprach Deutsch, in der Schule, zuhause. Das alles zählte nicht. Die Deutschen wollten sie nicht. Ihre Cousine schrieb aus Düsseldorf, sie müsse nächsten Monat zurück in ein Dorf bei Pristina. Ihr Haus stand nicht mehr. Das alles zählte nicht. Es gab ja Gesetze. Die Menschen konnten sagen, ich kann nichts tun, so steht es im Gesetz. Wie einfach, wie schrecklich, wie durchschaubar. Als hätte das Gesetz die Menschen gemacht, zu Unmenschen gemacht und nicht umgekehrt potentielle Unmenschen Gesetze. Aber sie durfte nicht vorschnell urteilen. Wahrheit ist eine Schnecke hatte sie gehört. Wenn Wahrheit und Gerechtigkeit zusammengehörten, so war klar, dass es noch Jahre und Jahrzehnte dauern konnte, bis dieses Schneckenpostgespann die Richtung änderte. Gerne hätte sie in den Osterferien eine Woche in Düsseldorf verbracht. Jedes Mal, wenn sie davon anfing, wechselten Stefan und Rosalia gleich das Thema. Sie ließ sich aber nicht beirren. Wenn man etwas wirklich möchte, so schafft man das auch was man sich vorgenommen hat, hatte Stefan ihr erklärt. Sie nahm sich vor, das auszuprobieren. Jetzt waren aber erst einmal die Hausaufgaben an der Reihe.

Ich heiße Elina  36. Teil

Mit einem tiefen Seufzer nahm sie das Aufgabenheft und begann mit dem Unvermeidlichen. Eine halbe Stunde später war auch das geschafft. Sie hatte etwas geschummelt. Die schwierigste Matheaufgabe hob sie sich bis morgen auf. Stefania ließ sie bestimmt abschreiben. Dafür würde sie ihr Pausenbrot teilen. Morgen war morgen und heute kam nicht wieder. Wer wusste es, vielleicht bemerkte Stefan, dass jemand die Dateien geöffnet hatte. Wenn sie schon Schelte bekommen würde, konnte sie noch einen Blick riskieren, solange sie alleine war. Schnell schaltete sie den PC an. Als er gebootet war, öffnete sie die richtigen Verzeichnisse. Der Müll hatten sie nur angelesen. Was bedeutete nur Das Gewehr? Sie versuchte die Datei zu öffnen. Es ging nicht. Es erschien eine Fehlermeldung. Unbekanntes Format. Oh, oh. Sie klickte auf die nächste Datei Das Baby. Die Datei ließ sich auch nicht öffnen. Er musste mit einem anderen Textverarbeitungsprogramm geschrieben haben. Ebenso erging es ihr mit TT-Story. Sie beschloss noch einmal in Der Müll hineinzuschauen. Sie öffnete die Datei und blätterte bis zum Ende durch. Als sie am Ende war, blieb der Seitenzähler auf 396 stehen. Fast vierhundert Seiten dick war also das Buch, wenn sie es ausdrucken würde. Na immerhin hatte ihr Papa sechs Jahre bei dieser schrecklichen Firma gearbeitet, da war sicher viel passiert. Sie schüttelte sich. Elina war schon öfter beim Bahnhof gewesen und hatte auch Putzleute dort gesehen. Dass es ihnen so schlecht erging, hatte sie nie gedacht. Ganz unten auf der letzten Seite waren drei seltsame Zeilen: http://www.jungewelt.de/1998/07-01/003.htmhttp://www.jungewelt.de/1998/07-13/012.htmhttp://www.uni-duisburg.de/AL/politik/bahnrein.htmlWas hatte Papa mit der Uni-Duisburg zu tun? Sie klickte darauf.

Ich heiße Elina  37. Teil

Es schien sich um einen Zeitungsartikel zu handeln. In Köln hatten Arbeiter, die wie ihr Papa Zugreiniger waren, 1998 gestreikt. Ein paar Pfennig mehr Stundenlohn waren dabei zusammen mit der Erkenntnis, dass Schmutzarbeit von der Gesellschaft weder beachtet noch honoriert wurde, herausgekommen. Entnervt gaben die Reiniger schließlich auf. Reiniger zu sein, schien fast gleichbedeutend damit zu sein Türke zu sein. Über 95 % der Reiniger waren Türken. Die Verbindung Ausländer und Schmutzarbeit waren der zeitungsherausgebenden Gesellschaft in Köln kaum eine Zeile wert. Wären es Deutsche gewesen…, aber so… . Elina schloss die Datei. Sie nahm sich fest vor heute Abend mit ihrem Paps zu reden. Die Stunden vergingen, Mama kam von der Arbeit und ging kurz darauf wieder. Eine Hochzeitsgesellschaft mit mehreren hundert Gästen hatte sich angekündigt und jede Kraft wurde im Restaurant gebraucht. Vor 23 Uhr war nicht mit ihr zu rechnen. Salla, ihr Bruder, kam von der Schule, aß etwas, lernte etwas und duschte wie jeden Abend, bevor er gegen acht aufbrach. Früher hatte er abends vor dem Weggehen nie geduscht. Sicher hatte er eine Freundin. Er sagte von sich aus nie etwas, er erzählte nie etwas, es war, als existiere er nur als sich bewegender Körper und seine Gedanken wären ein zu wichtiges Gut, als dass er sie mit anderen Menschen und seien sie aus seiner nächsten verwandtschaftlichen oder räumlichen Umgebung teilen würde. Jeden Tag gehen in Deutschland zwei Kinder oder Jugendliche freiwillig in den Tod, meldete die Deutsche Presse Agentur. 30 000 würden jährlich einen Selbstmordversuch unternehmen.

Ich heiße Elina  38. Teil

Stefan kam nicht. Elina stellte sich vor, wie er um 16 Uhr vielleicht schon Schluss mit der Arbeit gemacht hatte und jetzt in irgendeiner Kneipe mit irgendeiner Arbeitsbekanntschaft scherzte und lachte. Dann stellte sie sich vor, wie er nachts mit müden, noch vom Kneipenrauch umwölkten Augen gebückt und geschafft in die Wohnung schlurfen würde. Zu müde, um noch etwas über Arbeit und Mühe des Tages zu berichten. Zu sehr mit schlechtem Wissen behaftet, um von sich aus zu lügen, die angenehmen Seiten desselben zu verschweigen, ohne dass er es müsste. Ja, verschweigen war der Lüge sehr nahe. Das Schweigen aß vom selben Tellerchen, schlief im gleichen Bettchen, war die andere Seite der Münze, ohne die es keine Münze gab, außer im zweidimensionalen Bereich der Abbildungen in Zeitungen oder anderswo. Die Augen fielen ihr zu, als sie an diesem Punkt angelangt war. Es würde sein wie alle Tage und Fragen konnten ihn nur unwirsch werden lassen oder weiter ermüden. Vielleicht sagte er die Wahrheit, vielleicht war das Unwahrscheinliche wahr und er kam so spät tatsächlich von der Arbeit. Sie wusste es nicht und schlief endlich ein. Später nahm sie im Halbschlaf wahr, wie jemand sie aus dem Fernsehsessel hob, sie in ihr Bettchen trug und zudeckte. Etwas kratzte ihre Stirn entlang, der Gutenachtkuss von Papa. Sie schlief unruhig, immer wieder erwachte sie und wälzte sich von einer Seite zur anderen. Wahrscheinlich hatte Papa vergessen, das Fenster zu kippen. Sie schlief immer unruhig bei geschlossenem Fenster, in dem kleinen Zimmer war der Sauerstoff schnell verbraucht. Als sie am nächsten Morgen aufwachte, schien draußen die Sonne und Papa und Mama waren längst wieder unterwegs. Jesse Jackson wurde übermorgen vor 59 Jahren geboren. Er sagte einmal: «Das Weiße Haus darf nicht auf ewig ein Haus für Weiße bleiben.» Übermorgen vor neun Jahren wurde dem Christen Eugen Drewermann die Predigt- und Lehrerlaubnis entzogen. Er schreibt nun was er sagen möchte in 38 Büchern. übermorgen in neun Tagen würde Frau Baumgärtner zehn Seiten Strafarbeit von Elina verlangen. Wie hieß ihr Weg aus dieser Sackgasse?

Ich heiße Elina  39. Teil

Kelloggs zusammen mit einem halben Liter Milch, das Hühnerfrühstück, wie es Opi nannte, weil es aus aufgequollenen Weizenkörnern mit Honig bestand, war schnell intus. Die schulterlangen Haare seidig zu kämmen, dauerte etwas länger. Was würde der neue Tag bringen? Elina war unschlagbar was das Ausplaudern von Geheimnissen anging. Sie erzählte alles und jedem. In der Schule sprach sie davon, dass letzte Nacht seltsame Geräusche aus dem Zimmer der Eltern gekommen waren. Die Lehrerin rief empört zuhause an, um darauf hinzuweisen, dass Kinder früh zu Bett zu gehen haben und eigene Zimmer haben müssten und überhaupt am Verhalten des Kindes die Erziehung der Eltern ablesbar sei, wie in einem guten oder schlechten Buche. Zuhause erzählte Elina von weiblichen Lehrern, die ungezogene Schüler schon mal mit dem Kopf gegen den Schrank schlugen, an Ohren zogen und wie der Leibhaftige sogar auf brave, lerneifrige Streber wirkten. Parfüm war in ihrer Klasse verpönt. Wagte doch jemand sich mit betäubend und elektrisierend geheimnisvollen Wässerchen zu bestäuben, so hieß es für den Rest des Schultages und den Rest der Woche und darüber hinaus, wenn es keinen anderen Gesprächsstoff gab: Die stinkt. Die braucht Parfüm. Wozu braucht sie Parfüm? Sie wäscht sich nicht. Wenn es wenigstens erträglich duften würde. Aber nein, sie kommt daher wie ein Nebeltier, man kann vor lauter Duftwolke ihr Gesicht nicht mehr erkennen. Kinder konnten grausam sein. Aber nur gegen die mit wenig Selbstbewußtsein. Und die mit genügend davon waren die grausamsten, wenn sie nicht gerade mit sich selbst beschäftigt waren und an ihrem Ego feilten. Am interessantesten war es Geheimnisse zu verbreiten, die unfassbar abenteuerlich waren. Geheimnisse, die sonst nur in Büchern vorkamen und auch dort nur so spannend waren, weil sie im Zusammenhang erdacht, also erfunden, also erlogen waren. Nein! Elina kannte eine so abenteuerliche Geschichte, dass sie ihr niemand wirklich glaubte und beweisen konnte sie sie nicht, ohne dass ihre Eltern erfuhren, dass sie wieder einmal geplaudert hatte. Es war die Geschichte vom Schatzsucher Stefan, ihrem Vater, der wann immer ein Stündchen von anderen Verpflichtungen abzweigbar war mit einem seltsamen Gerät in Vorfreude strahlend in deutsche Wälder verschwand und versunkenen Schätzen nachspürte. Das war eine Geschichte wie aus dem Bilderbuch. Keine andere Freundin konnte mit etwas vergleichbarem auftrumpfen. Und war wieder eine Woche vergangen, in der er außer dem Wohlstandsmüll vergangener Zeiten und ein paar Hufeisen nichts gefunden hatte, so konnte sie doch immer wieder verkünden. «Er ist dran. Er gibt nicht auf. Bald sind wir so reich, dass ich Privatlehrer bekomme. Und sind die nicht nett, so werden sie ausgetauscht, wie verdorbene Lebensmittel im Supermarkt. Einfach so.» Und sie schnippte dazu mit dem Finger. Und alle hörten gebannt und stille zu, denn einen Augenblick in dem man über einen Lehrer scheinbar gebieten kann muss man genießen. Salla kam und ging wieder. Er hatte wohl nur etwas vergessen gehabt. Er redete nicht sehr viel. Er überlegte sehr viel, glaubte Elina. Wie sonst konnte er es schaffen in der Schule so gut zu sein? «Stille Wasser sind tief», sagte manchmal Frau Baumgärtner, wenn eine der Stummen in der Klasse wieder einmal unerklärlicherweise eine sehr gute schriftliche Note in Form von ein paar Blättern überreicht bekam. Vielleicht sollte ich weniger reden, dachte Elina, dann hält mich Frau Baumgärtner vielleicht auch für intelligenter, als ich bin.

Ich heiße Elina  40. Teil

Das Wetter draußen war super. Elina entschied noch etwas rüber zum Bäcker zu gehen. Dort waren meistens irgendwelche Kinder zum spielen. Sie steckte die Hausschlüssel ein und ging die Strasse runter. Als sie an ihrer Schule vorbeikam, musste sie wieder an die Strafarbeit denken. Stefan kam meistens kurz nach acht von der Arbeit. Seit kurzem fuhr er mit dem Fahrrad die insgesamt zwölf Kilometer. Um mehr an der frischen Luft zu sein, sagte er, wenn man ihn fragte. Sie verstand nicht, wie man sich etwas schwer machte, wenn man es viel leichter haben konnte. Mit dem Auto war er schneller und musste nach der Arbeit nicht noch den steilen Anstieg bis zu ihrem Stadtteil bewältigen. Es war schwer bei Erwachsenen zu begreifen, warum sie dies und jenes taten. Sie taten es einfach und fragten nicht mehr warum. Oder gab es eine Antwort, die sie nur nicht wusste? Wann konnte sie nur mit ihm reden? Gut dass es Kinder gab, die Fragen stellten. Sollte sie einfach in die Firma gehen und sagen: » Stop. Hier bin ich. Jetzt wird geredet.» Sie lächelte bei dem Gedanken. Mit großem Hallo wurde Elina vor der Bäckerei empfangen. Katharina die Kleine, Stefania, Bella und Manuela saßen auf einer Bank und ließen sich Eis schmecken. » Mmh lecker, auf Eis hätte ich jetzt auch Lust», meinte Elina. » Kauf dir eins, wir warten solange», entgegnete Bella. » Nein, ich hab kein Geld mit.» » Ha, ha, sagst du ja nur, damit wir für dich bezahlen», giftete Stefania. » Ist nicht wahr.» Elina stemmte die Fäuste in die Hüfte. » Ist doch wahr», beharrte Bella. » Wäre ja nicht das erste Mal.» Die anderen kicherten wie zur Bestätigung. » Wann kann man die Bücher von deinem Vater kaufen?», fragte Bella. » Weiß nicht», entgegnete Elina. » Wenn er viel Geld dafür bekommt, kannst du uns ja alle zu Mac Donalds einladen.» Elina sagte nichts. Die anderen schwiegen auch. Ihr wurde klar, dass Bella alles ausgeplaudert hatte. » Kannst du denn gar nichts für dich behalten?», fuhr sie sie an. Was meinst du?, tat Bella unschuldig. Und ich dachte, du wärst meine Freundin. Elina wandte sich ab und ging davon. Sie machte keine Kompromisse. Niemand kam ihr hinterher.Bella bekam von ihren Eltern viel Geld zugesteckt. Taschengeld konnte man das nicht mehr nennen. Sie lud immer alle ein und hatte so viele Freundinnen. Das war nicht fair. Alles war so ungerecht. Auf dem Nachhauseweg kam sie wieder an der Schule vorbei. Was tat sie nur wegen der Strafarbeit? Was ging es Frau Baumgärtner an, welchen Beruf ihr Vater hatte. Bekam sie eine eins, wenn er Professor war, eine zwei für einen Lehrer oder Politiker und eine vier abwärts für einen Arbeitervater? Nun, dann akzeptierte sie lieber eine schlechte Note. Für was waren Noten überhaupt nütze? Sagten sie etwas darüber aus, ob jemand ein guter Mensch war und blieb? Konnten sie vorhersagen, ob ein Junge eine ältere Dame über die Strasse führte oder ihr einfach die Handtasche entriss oder beides? Konnten Lehrer sich nie irren? Elina quälte sich mit solchen Gedanken. Wenn sie wütend war, fiel ihr sehr viel ungerechtes ein. Sie beschloss von nun an oft wütend zu sein. Wenn ihr gute Gedanken kamen, konnte sie sie aufschreiben wie ihr Vater. Die Schauspielerei trat plötzlich in den Hintergrund. Ihr neuer Traum hieß Schriftstellerin. Es musste toll sein. Schreiben konnte man an jedem Punkt der Welt. An jedem Ort der Welt, ob in Australien, auf Mallorca, in Japan oder der großen Insel, na wie hieß sie noch – England, konnte sie diesen Beruf ausüben. Was ihr einfiel, war wie ein Schlüssel in eine neue Welt. Und dieser Schlüssel passte zu vielen Welten. Sie konnte eine Geschichte erfinden, die in der Zukunft spielte. Science Fiction nannte man das. Oder einen Kriminalroman entwickeln. Oder ganz einfach ihre Geschichte aufschreiben. Das was ihr jeden Tag passierte in Worte kleiden. Ein Klick und sie schickte die Story übers Internet an den Verlag.Sie hatte ihn, ihren Traumberuf, dessen war sie sich ganz sicher. Es war keine Träumerei, wie ihr Schwärmen über das Schauspielern. Sie wollte nicht für andere arbeiten wie ihr Papa. Nein, sie wollte ihr eigener Chef werden. Das war es. Um sein eigener Chef zu sein, brauchte man keine guten Noten in der Schule. Ein gesunder Menschenverstand reichte völlig. Frau Baumgärtner hatte keine Macht mehr über sie. Die Schule hatte keine Macht mehr. Niemand konnte ihr drohen: Wenn du schlecht in der Schule bist, bekommst du später nicht die Arbeit, die dir Spaß macht. Du kannst nicht die Ausbildung machen, die dir Spaß macht. Diesem Teufelskreis war sie entkommen. Es gab immer einen Ausweg, eine Lösung. Man musste nur lange genug darüber nachdenken. Die Schule brauchte sie und nicht umgekehrt. Gingen die Kinder nicht mehr zur Schule, so brauchte man die Lehrer nicht mehr. Sie konnten sich einen anderen Job suchen gehen. Der Gedanke gefiel ihr. Sie fühlte sich dann nicht so schwach gegen all die Gesetze, die sie zwangen, in die Schule zu gehen. Nach all diesen wütenden Gedanken fühlte sie sich schon besser. Zuhause stellte sie das Radio an und begann sich eine Stulle zu schmieren. Ehud Barak hatte das Ultimatum gegen die Palästinenser um einige Tage verlängert. Treppensteigende Wahrscheinlichkeit, den Krieg zu treffen.

© 2000 – 2011 Hans-Jürgen John